Schon vor Jahrzehnten habe ich gelernt, dass es ein schwerer Fehler ist, Wünsche oder Forderungen so zu formulieren, dass sie mit anderen, ungerecht oder überhöht erscheinenden Leistungen verglichen werden. „Ich will tausend Euro mehr, weil mein Kollege die bekommt, obwohl er weniger arbeitet und eine kleinere Familie zu unterhalten hat“ mag zwar meine innerste Überzeugung sein, hat aber mit dem Gegenstand meiner Klage, der unangemessenen Bezahlung meiner eigenen Arbeit, nichts zu schaffen. Darüber hinaus macht mir dieses Argumentieren, wenn es bekannt wird, mindestens den benannten Kollegen für immer zum Gegner.
Gleiches gilt in der Politik: Forderungen pro Kultur kommen schlecht an, wenn sie als Forderungen contra Sport oder Straßenbau formuliert werden. Ganz abgesehen davon, dass Sport und Straßenbau wahrscheinlich sehr viel mehr Anhänger haben als das, was gemeinhin als Kultur verstanden wird, gilt hier das Gleiche wie im Arbeitsleben: wer in Darmstadt heute damit argumentieren würde, dass die geplanten Investitionen in das Fußballstadion mal mindestens die freie Theater- und Literaturszene für Jahrzehnte von Existenzangst und Überlebenskampf befreien könnte, hätte zwar Recht, aber kaum noch Freunde.
Dies vorausgeschickt kann ich es dennoch nicht vermeiden, über das Gedenken an Darmstadts Söhne Georg Büchner und Ernst Elias Niebergall zu schreiben. Beider wurde in den vergangenen Jahren aus chronologischen Gründen besonders gedacht: Georg Büchner wurde 1813, vor kürzlich 200 Jahren, geboren und starb vor ebenfalls kürzlichen 175 Jahren, 1837. Ernst Elias Niebergall wurde 1815, vor gerade jetzt 200 Jahren, geboren, sein Schauspiel „Der Datterich“ wurde 1915, vor 100 Jahren uraufgeführt.
Soeben hat man in Darmstadt ein weiteres Denkmal für Niebergall enthüllt. Professor Thomas Duttenhöfer hat eine lebensgroße Plastik geschaffen, die wohl eher Datterich als Niebergall darstellt – es ist Darmstädter Allgemeingut, dass Niebergall als einigermaßen verkrachte Existenz selbst durchaus zu Recht in seiner Figur erkannt wird. Im Deutschlandfunk hat Ludger Fittkau darüber berichtet „Darmstadt rehabilitiert verfolgten Verfasser“.
„Liebe Frooinde“, wie Datterich sagen würde, „en Momend emol“:
von mir aus kann für Niebergall, dem bereits mit dem „Niebergall-Brunnen“ von 1930 und einer Datterich-„Installation“, die heute kein Brunnen mehr ist, gedacht wird, noch ein viertes und ein fünftes Denkmal aufgestellt werden (schon ist eine Plakette an seiner ehemaligen Schule, dem „Pädagog“ geplant, neben Liebig, Lichtenberg und Büchner); da halte ich es wie mit dem Fußballstadion – Mehrheiten wollen bedient werden. Was allerdings seine Qualitäten angeht, rate ich zu Tucholskys „hamse’s nich ne Nummer kleiner?“, gerade, was den Vergleich mit dem „anderen“ Darmstädter angeht. Bei näherer Betrachtung stellt sich neben die Gemeinsamkeit des Heimatortes (bezüglich des Geburtsortes wollen wir mal nicht so pingelig sein) und des Schul- und später Studienortes eigentlich nur noch die sehr allgemeine Zugehörigkeit zur dichtenden Zunft. Georg Büchner ist seit Jahren international der weltweit meistgespielte deutsche Dramatiker, sein Werk ist von so außerordentlicher Qualität, dass ich selbst mir immer wieder und nur mit Mühe den unseligen Begriff „Genie“ verkneife (während er anderen leicht von der Hand geht). Niebergall ist der Dichter eines amüsant-tiefgründigen Lokaldramas, das durchaus zu Recht aus der endlosen Reihe von deutschen Mundartstücken hervorragt (wenn es auch nach meiner bescheidenen Ansicht die Stärke und Kraft von Zuckmayers „Fröhlichem Weinberg“ nicht erreicht). Seine weiteren Werke, die nun in einer „Historisch-kritischen Edition“ erscheinen sollen, erreichen die Qualität des „Datterich“ nicht. So sehr Georg Büchners Leben vom politischen Impetus erfüllt und bewegt war, so wenig wissen wir von Niebergalls politischer Haltung. Bekannt ist nur seine Verwicklung in die Auflösung des Burschencorps „Palatia“ in Gießen „wegen verschwörerischer Umtriebe“, was sein Examen verzögerte. Eine dokumentierte Äußerung zu seiner politischen Haltung von ihm selbst gibt es nicht.
Für Georg Büchner, und da irrt Fittkau, gibt es kein Denkmal in Darmstadt.
Die „Grande Disco“ von Arnaldo Pomodoro , die auf dem Büchnerplatz steht, hat der Künstler mit diesem Titel geschaffen; erst der damalige Darmstädter Oberbürgermeister hat einen Streit um ein Büchnerdenkmal damit beendet, dass er die Plastik sozusagen nachträglich verbüchnert hat. 1974 erklärte er zur Aufstellung : „Georg Büchner selbst braucht kein Denkmal, da seine Werke für sich sprechen, aber die Darmstädter Bürger bedürfen dieses Denkmals, um sich immer wieder an Büchner zu erinnern“. Immerhin schon 1955 hatte Wilhelm Loth Entwürfe vorgelegt, die alle nicht verwirklicht wurden.
Und auch Thomas Duttenhöfer, dem hier zuallerletzt ein Vorwurf aus der Gestaltung des gelungenen Datterich gemacht werden soll, hat schon vor langer Zeit einen wunderschönen „Büchner-Kopf“ modelliert. Einer seiner Besitzer, der kürzlich hochbetagt verstorbene Darmstädter Architekt Fritz Soeder, Ur-Großneffe Georg Büchners, hat ihn mir stolz gezeigt.
Der Autor Fritz Deppert hat 2013 in einer Erzählung die Büchner-Denkmallosigkeit Darmstadts zum Thema gemacht („Georg Büchner geht durch Darmstadt“. Justus-von -Liebig-Verlag. 2013. 9783873903333).
Seit kurzem gibt es die Initiative der regen Luise Büchner-Gesellschaft, wenigstens ihrer Namensgeberin, der bedeutenden Frauenrechtlerin, Publizistin, Historikerin und Autorin Luise Büchner, einer Schwester Georg Büchners, in Darmstadt öffentlich zu gedenken. Im übernächsten Jahr, 2017, zum 150. Jubiläum der Gründung der von ihr initiierten „Alice-Frauenvereine“ in Darmstadt, soll es aufgestellt werden. Die Finanzierung der vielleicht 20.000 Euro, die dafür voraussichtlich benötigt werden, kann der kleine Verein alleine nicht leisten. Stattdessen hat er, unterstützt von der Frauendezernentin und der Frauenbeauftragten der Stadt, Vereine, Initiativen, Gruppen, Schulen und andere Zusammenschlüsse aufgerufen, mit Benefiz-Aktionen ein „Crowd-Funding“ zu unterstützen. Dem ist aus vielen Gründen alles Gute zu wünschen: Natürlich verdient Luise Büchner die Würdigung eines Denkmals, unbedingt verdient Darmstadt endlich ein weiteres Denkmal für eine Frau (davon gibt es zu Unrecht viel zu wenige), die Schaffung und Errichtung eines Denkmals macht als Ausdruck einer tatsächlichen öffentlichen Bewegung besonders viel Sinn und – es könnte als Annäherung an die überfällige Würdigung weiterer Familienmitglieder wirken.
An Georg Büchner muss da noch gar nicht gedacht werden: der Bruder Ludwig war im 19. Jahrhundert ein weltberühmter Autor, Publizist und Politiker, der Bruder Wilhelm ein Erfinder, sozial höchst engagierter Unternehmer und ebenfalls aktiver Politiker, und auch der Bruder Alexander verdient in Darmstadt Erinnerung als Autor und Sprachwissenschaftler, der in Frankreich als Sprachlehrer unermüdlich für Freundschaft und Verständnis der beiden Völker untereinander gearbeitet hat. Der Schwester Mathilde schließlich konnte kürzlich immerhin der Grabstein gesetzt werden, der in der Vergangenheit vergessen wurde oder verloren ging. Ein Gruppendenkmal für die ganze Familie auf dem Ludwigsplatz, anstelle des von den Büchners nicht besonders geschätzten Bismarck, das hätte was.
Georg Büchners Gedenken überfordert dagegen wohl seine kleine Stadt: schon sein späterer Biograf Kasimir Edschmid schrieb ja von der darmhessischen Beschränktheit zwischen Süd- und Ostbahnhof und dem Horizont auf Höhe des innerstädtischen Badesees „Großer“ Woog. Dort mag sich Niebergall getrost aufgehoben fühlen. In Büchners Geburts„Stadt“ Riedstadt-Goddelau beraten die Kommunalpolitiker den Etat für das kleine Museum in seinem Geburtshaus mit der gleichen Verve wie den für das in gleicher Zuständigkeit liegende Leeheimer Heimatmuseum und lassen uns so ihren geistigen Horizont und die allgemeine öffentliche Bereitschaft ahnen, Büchner als den bedeutendsten hessischen, einen der größten deutschen, Dichter zu würdigen.
Nein, für das Gedenken an Georg Büchner braucht es mehr als heimatkundliches Engagement: sein Geburtshaus, die Forschung über sein Leben und Werk (die das Land Hessen gerade leichtfertig aus der Hand gibt), vielleicht auch eines Tages die Errichtung eines Denkmals sind Aufgaben, denen sich Literatur und Politik jenseits aller Grenzen verpflichtet sehen müssen, damit sie erfolgreich und wirksam sein können. Die „Büchner-Biennale”, die in den vergangenen Jubiläumsjahren Büchners gedenken und ihn in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses stellen sollte, hat jedenfalls eine, vielleicht ihre bedeutendste, Aufgabe verpasst: Fundamente zu setzen, auf denen öffentliches Gedenken und wissenschaftliche Forschung auf stabile Füße hätten kommen können.
Ein Vergleich mit dem anderen „größten Hessen“ liegt nahe: Mit Goethehaus, Freiem Deutschen Hochstift, Goethe-Gesellschaft(en), Goethe-Institut und Goethe-Schiller-Archiv (wo ironischerweise die meisten Büchner-Handschriften liegen), zu schweigen von den Goethe-Denkmalen in Stadt und Land ist dessen Gedenken mehr als Genüge getan.
Die mangelnde Lobby für Georg Büchner drückt seine Wirkung vielleicht stärker aus als jede Forschungsarbeit das könnte: da sind noch immer zu viele Widerhaken, mit denen sein Werk sich in der Wirklichkeit festkrallt. Noch immer wirken Büchnerzitate wie Guillotinemesser, wo Goetheworte nur noch als mildes Olympiertum aus vergangenen Zeiten klingen.
Es geht nicht darum, das nächste runde Jubiläum abzuwarten , um endlich Georg Büchner Anerkennung zu zollen. Stattdessen kann das nur geschehen, wenn diejenigen, die er bis heute berührt, denjenigen, die über die nötigen Mittel und Wege verfügen, unmissverständlich auf die Sprünge helfen: So lange ein hessischer Wissenschaftsminister öffentlich auftreten kann, ohne dass ihm die Versäumnisse um Büchnerforschung und Gedenken um die Ohren gehauen werden, so lange eine Landesregierung von Kulturförderung reden kann, ohne dass ihr die Lage von Büchners Forschungsstelle und von seinem Geburtshaus entgegengehalten wird, so lange ein Kunstwerk wie die freie Büchnerbühne in Riedstadt nur durch grenzenlose Selbstausbeutung der Künstler und unter prekärsten Umständen bestehen kann, so lange nicht Georg Büchner auf dem schönsten Denkmal Darmstadts steht – so lange kann Georg Büchners Anerkennung nicht als gesichert gelten. Jede Schauspielerin, jede Regisseurin, jede Autorin, jede Germanistin, jede Ärztin, jede Biologin und nicht zuletzt jede halbwegs republikanische Politikerin, die in ihrem Leben je erkannt hat, was Georg Büchner ihr zu bieten hat (und alle Männer in den genannten Tätigkeiten dürfen sich mit gemeint verstehen), ist aufgerufen, Georg Büchner ein Denkmal zu setzen. In Gedanken, Worten und Taten.
von Peter Brunner
Carsten Buchholz aus Darmstadt hat in seinem Blog den Ball aufgegriffen und widerspricht: „Eine Stadt definiert sich nicht dadurch, wen sie zuletzt zur geduldigen Denkmalparade hinzufügt, sondern durch das Gesamtbild, das sich durch diese Dinge ergibt. Beginnend mit den großen Statuen auf den großen Plätzen. Und dieses Gesamtbild ist für Darmstadt nicht schön, aber deutlich.”
http://neunmalsechs.blogsport.eu/2015/georg-buechner-per-denkmal-entsorgen/comment-page-1/
Lieber Peter Brunner, Deine Erfahrung mit „wenn-der-das-kriegt,-dann-will-ich-aber-auch“ teile ich voll umfänglich. So bin ich noch NIE zum Ziel gekommen. Ich lerne daher lieber auf dem erfolgs-versprechenderen Weg der Authentizität eines Querdenkers um das Verhaltensmuster eines G.B. aufzugreifen. Chemnitz hatte sich zeitweise umbenannt und eine monströse Kopfplastik aufgestellt, um einen Sohn der Stadt zu würdigen. Immerhin hat sein Vordenkertum zur zeitweiligen Teilung Europas geführt. Da sei die Größe der Statue und die Umbenennung auch angemessen. Darmstadt hat sich als „Wissenschaftsstadt“ zumindest selbst betitelt; demzufolge spielt die Denkerei keine bürger-nahe, literarisch-kulturelle Rolle. Wir reden immer noch von Darmstadt als (ehemalige?) Beamtenstadt, die die Rolle der Politiker, die nach Kriegsende die Entnazifizierung der US-Amerikaner schadlos überstanden haben, am liebsten unter den Tisch fallen lassen möchte und lieber gegen Neo-Nazis (wohl wohnhaft in Darmstadt) pauschal-verurteilend vorgehen möchte. Ich schlage daher vor, den Weg wie einer Bürgerinitiative zur Denkmalerrichtung für die „Brezel-Resi“ einzuschlagen. Der Standort ist fest – es geht quasi nur noch um Zentimeter – und alle stadtgestalterischen Denkmäler, die sowieso nur eine nicht beherrschbare Eigendynamik bekommen, wie das der „Herbert-Reißer-Schlucht“, bleiben außen vor. Herzliche Grüße, Dipl.-Ing. Jörg Bergmann. PS: In der Elly-Heuss-Knappschule wurde das Fach „Heimatkunde“ abgeschafft, im Ludwig-Georgs-Gymnasium nicht mehr aufgegriffen und der Abiturs-Jahrgang 2015 hat kein „grünes“ Exemplar einer Datterich-Ausgabe mehr bekommen, so wie es Tradition war. Was will man da erwarten für ein zukünftiges Büchner-Denkmal? Nichts – es sei denn, die Bürger engagieren sich dafür. Die Politik vermag es nicht.