Am 27. November erhielt Prof. Dr. Luise F. Pusch im voll besetzten Vortragssaal des Darmstädter Literaturhauses den 5. Luise Büchner-Preis für Publizistik. Die Musikwissenschaftlerin Prof. Dr. Eva Rieger hielt ihr die Laudatio. Das fast unverändert vorgetragene Manuskript darf ich hier mit ihrer freundlichen Genehmigung wiedergeben.
Eva Rieger: Laudatio für Luise Pusch (Stand 21.11)
Sehr geehrte Damen und Herren,
als ich gebeten wurde, eine Laudatio für Luise Pusch zu entwerfen, habe ich zuerst überlegt, ob und wo es Überschneidungen zwischen Luise Büchner und der heutigen Preisträgerin gibt. Zum einen haben sie denselben Vornamen. Zum anderen sind beide Vorkämpferinnen der Frauenbewegung, und beide haben mit ihren Schriften viel bewegt. Zum dritten liebten beide die Musik – Luise Puschs Sammlung an Radiomitschnitten ist mehr als riesig und die technisch ausgefeilte Medienecke in ihrer Küche berühmt-berüchtigt; Luise Büchner befasste sich einmal intensiv mit Richard Wagners Ring des Nibelungen. Hier kommt die vierte Gemeinsamkeit zum Tragen, nämlich der Humor. Ich zitiere aus Luise Büchners Kritik der Götterdämmerung:
„Um Siegfried nur einigermaßen moralisch zu erretten, greift Herr Wagner abermals nach seinem geliebten, aber allgemach sehr langweilig werdenden Zaubertrank, welcher ihm Vergessenheit Brunhildens und Liebe zu Gutrun gibt. Nun, ein Mann, der seine Frau verlässt, um gleich danach eine Andere zu heiraten, ist gewiss ein recht schlechter, erbärmlicher Wicht, aber auf der Bühne denn doch immer zehnmal erträglicher, als solch eine Marionette, die nur das Geschöpf eines Frühtrunks ist, und die dann, da es dem grimmen Hagen gutdünkt die Flaschen zu wechseln, gleich danach durch ein zweites Gläschen die Erinnerung wieder zurückerhält.“[1]
Hier offenbart sich eine Lust an schwarzem Humor – was auch ein elementarer Bestandteil von Luise Puschs Arbeit ist. Wir sehen also, es gibt mehrere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Frauen.
Nichts aus ihrer Kindheit weist auf diese Fähigkeit, die Dinge zu ironisieren, hin. In Gütersloh geboren, kannte Luise Pusch ihren Vater, der Gemeindepfarrer gewesen war, kaum, denn ihre Mutter ließ sich von Luises Vater scheiden, als Luise 3 Jahre alt war. Die Lebenssituation der Mutter im Nachkriegsdeutschland, die mit einem bescheiden bezahlten Sekretärinnenjob drei Kinder durchbringen musste, prägte Luises Kindheit. Die Sorgen ums Überleben beherrschten den Alltag, die Mutter war gezwungen, die Kinder weitgehend sich selbst zu überlassen. Luise umgibt sich schon im frühen Alter mit technischen Geräten. Zunächst sitzt sie vor dem Radio, um während der Heimarbeit Musik- und Literatursendungen zu hören, dann vor dem Plattenspieler, schließlich vor dem Tonbandgerät. Musik sowie geistige Interessen sind für sie Strategien zur Bewältigung des Alltags. Als Kind ungewöhnlich schüchtern, kompensiert sie mit hohen intellektuellen Leistungen und verschafft sich so Anerkennung bei MitschülerInnen und LehrerInnen.
Um der Mutter zu imponieren, erbringt Luise beste Zensuren und Leistungen in den sprachlichen Fächern. Nach dem Abitur studiert sie Anglistik, Latinistik und Allgemeine Sprachwissenschaft in Hamburg. Von 1966 bis 1972 ist sie Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Sie schließt ihre Studien mit der Promotion zum Dr. phil. ab. Ihre Dissertation ist dem Thema Die Substantivierung von Verben mit Satzkomplementen im Englischen und im Deutschen gewidmet (Prädikat: sehr gut). Nach einer vierjährigen Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin bekommt sie 1976 ein Habilstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Alles deutet auf eine vielversprechende akademische Laufbahn hin, als sie 1979 – nach ihrer Habilitation zum Thema Kontrastive Untersuchungen zum italienischen gerundio für das Fach Sprachwissenschaft – für fünf Jahre das in universitären Kreisen hochgeachtete Heisenberg-Stipendium erhält. 1985 ernennt die Universität Konstanz sie zur außerplanmäßigen Professorin. So schienen die Türen für eine glänzende Universitätskarriere als Hochschullehrerin weit geöffnet, mit einem Lehrstuhl an einer traditionsreichen Universität, mit AssistentInnen, Drittmitteleinwerbung, Gremienarbeit, der Ausbildung von DoktorandInnen, der Organisation von Fachtagungen und freier Forschung. Luise hätte sich dann vielleicht in die Sprachpartikeln des Russischen vertieft oder sich zum Stand der Sondersprachen in der friesischen Lexikographie auf linguistischen Tagungen Ruhm erworben. Doch es kam anders.
Aus der Beschäftigung mit der Frauenbewegung, die sich in den siebziger Jahren aus den USA kommend rasch in Deutschland ausbreitete, wurde ihr deutlich, dass die Sprachwissenschaft große Defizite aufwies. Wie in anderen geisteswissenschaftlichen Fächern auch, war es bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein nicht üblich, das soziale, historische und kulturelle Umfeld in die Forschung mit einzubeziehen. Wer Sprache als ein soziales Zeichensystem sah und eine sozialwissenschaftliche Position einnahm, galt schon als AussenseiterIn. Die ersten Forschungen von Luise Pusch waren noch den traditionellen Themen ihres Faches gewidmet, nun aber entwickelte sie Ideen, wie man Sprache ändern könne. 1979 schrieb sie ihren ersten feministisch-linguistischen Aufsatz. Wohlmeinende Kollegen rieten ihr, diesen als einen kleinen „Ausrutscher“ anzusehen und zur „richtigen“ Linguistik zurückzukehren. Ihr war die Brisanz ihrer Aussagen wohl bewusst, aber sie hatte nach ihrer bis dato so steilen Karriere nicht voraussehen können, wie kaltschnäuzig man sie ausgrenzen würde. Die Versuche, gemeinsam mit Senta Trömel-Plötz in der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft eine Sektion für feministische Linguistik zu gründen scheiterten ebenso, wie zahlreiche Bewerbungen auf eine Professur an einer deutschen Universität.
Außerhalb der Universität wird Luise zunächst erst in der Frauenbewegung, später auch in anderen Institutionen des öffentlichen Lebens zur profiliertesten und gefragtesten feministischen Linguistin. In zahllosen deutschsprachigen Städten des In- und Auslandes wird sie zu Lesungen und Workshops eingeladen, und die Säle sind überfüllt. Sie hat entscheidend dazu beigetragen, in der Gesellschaft ein sensibilierteres Sprachbewusstsein durchzusetzen, und zwar nicht nur durch scharfsinnige Analysen und direkte Kritik, sondern auch durch das Mittel der intelligenten Ironie. Mit ihrer unerschöpflichen Phantasie, gekoppelt mit einem zum Teil schwarzen Humor, der sich in beißende Ironie verwandeln kann, fordern ihre Glossen zum Lachen auf – aber der Subtext spricht von der Einsicht in eine Machtstruktur, die die Sprache prägt und die Frau als zweitrangig abstempelt. Viel hat sie damit erreicht. Zwar wird statt des generischen Maskulinums die Doppelform weitgehend benutzt, nicht, wie Luise es wollte, das umfassende (generische) Femininum. Doch erreichte sie einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch, der sich weiterhin verfeinert.
Luise Pusch blieb bei ihrer Überzeugung, dass Sprache und Kultur in Beziehung stehen und sich wechselseitig bedingen. Ein Lexikon bringt es auf den Punkt: „Pusch hat aufgrund ihres kontinuierlichen sprachkritischen Engagements die allgemeine Wahrnehmung männlich orientierter Sprachnormen spürbar differenziert.“[2] Indem sie sich bewusst von dem herrschenden Diskurs absetzte und neue Wege ging, war es fast zwangsläufig, dass sie keine dauerhafte Aufnahme an den traditionsverhafteten linguistischen Fakultäten deutscher Universitäten fand. Ihre Radikalität, die so viele feministisch gesinnte Frauen begeisterte und für volle Säle sorgte, war manchem Akademiker ein Dorn im Auge
Ich lernte Luise Pusch Anfang der 1980er Jahre kennen. Ihr autobiographischer Roman Sonja war gerade erschienen, in dem sie ihre persönlichen Erfahrungen aus den Hamburger Studienjahren verarbeitet. Er erlebte mehrere Auflagen und wurde 20 Jahre später noch einmal aufgelegt, diesmal mit einem bewegenden Foto der „echten“ Sonja auf dem Titelblatt. Es ist die Geschichte des Zusammenlebens zweier Frauen, von denen die eine im Rollstuhl und suizidgefährdet ist, und frau erlebt eine ganz andere Seite der Autorin: die schonungslose Offenlegung einer schwierigen Liebesbeziehung mit allen Einzelheiten bis hin zum Tod. Sie veröffentlichte ihn zunächst unter dem Pseudonym „Judith Offenbach Ich fragte sie damals nach Judith Offenbach, die ich gerne kennengelernt hätte, und erfuhr, dass es sich um Luise selbst handelte.“. Später entschied sie sich, ihr Pseudonym zu lüften und half damit vielen lesbischen Frauen, sich ebenfalls nicht mehr zu verstecken.
Für mich war es ein aufregendes Ereignis, als Pusch 1983 den Band „Feminismus – Inspektion der Herrenkultur“ herausgab. In diesem Buch kritisierten verschiedene Fachvertreterinnen die Defizite ihres jeweiligen Faches aus weiblicher Sicht. Dass der renommierte Suhrkamp Verlag den Band herausbrachte, werteten wir als Hinweis, dass der Feminismus bei den klassischen Verlagen angekommen war. In ihrer Aufsatzsammlung Deutsch als Männersprache ein Jahr später analysierte Luise Pusch die genderbezogenen Asymmetrien unseres Sprachsystems. Dieses Buch ist heute mit 140 000 verkauften Exemplaren das bestverkaufte sprachwissenschaftliche Werk der Nachkriegsgeschichte.
Inzwischen wurden Empfehlungen oder Richtlinien von staatlichen Behörden, Berufsorganisationen, Gewerkschaftsverbänden, Universitäten und anderen Institutionen zu einem beide Geschlechter adäquat umfassenden Sprachgebrauch erlassen. Dieses ist ein Erfolg der feministischen Sprachwissenschaft und damit in hohem Maße auch derjenigen Person, der diese Veranstaltung gewidmet ist.
1987, als die Herausgabe des Kalenders Berühmte Frauen begann, gab es noch kaum Straßen oder Plätze, die nach einer Frau benannt worden waren. Statt dessen erinnerten die Namen von Gebäuden, Männerköpfe auf Geldscheinen und Männer-Denkmäler flächendeckend an die Leistungen von Männern. Dazu wollte Luise Pusch ein Gegengewicht, ebenfalls in der Alltagskultur, schaffen. Anstelle eines Lexikons über bedeutende Frauen wählte sie einen Kalender. Mit ihm sollen beim täglichen Gebrauch fortwährend Gesichter und Taten von Frauen vor Augen geführt werden, damit sich das weibliche Selbstwertgefühl erholt. Es galt, das bisher verborgene Wissen über Frauen präsent zu machen, und das jährliche Erscheinen zeugt bis heute von dem Erfolg eines unerschütterlichen Beharrungsvermögens, das Luises Arbeitsweise kennzeichnet. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang ihre Herausgabe biographischer Aufsatzsammlungen, die eine feministische Sichtweise vertraten und sie zu einer Pionierin auf diesem Gebiet machten: Schwestern berühmter Männer, Töchter berühmter Männer und Mütter berühmter Männer. Damit lenkte sie den Blick auf solche Frauen, die meist unbeachtet und ohne Anerkennung im Hintergrund agierten, während ihre Brüder, Ehemänner, Liebhaber oder Söhne für ihr Schaffen das Lob der Allgemeinheit einheimsten. Diese Perspektive einzunehmen war für eine feministisch orientierte Forschung ein wichtiger Schritt, denn es zeigt sich, dass trotz der in den achtziger Jahren postulierten Kritik an großen Traditionen jede Gesellschaft solche benötigt – und Frauen benötigen sie mehr denn je.
Sie ahnen sicherlich schon, wohin die Reise ging, denn diese vielen Frauenbiographien hat Luise Pusch in ihre Datenbank eingefüttert, die sie 1982 begründete. Während Literaturwissenschaftlerinnen nach marginalisierten Autorinnen und Kunsthistorikerinnen nach Künstlerinnen suchten, lag ihr daran, fächerübergreifend bedeutende Frauen aller Sparten und Fachrichtungen der Vergessenheit zu entreißen und in das gesellschaftliche Bewusstsein zu verankern. Luise sammelte zunächst aus dem fünfundzwanzigbändigen Meyer-Lexikon in dreißig Ringbüchern die Daten von 2000 bedeutenden Frauen, denen „der Meyer“ an der Seite der 100.000 Männer ein Plätzchen gegönnt hatte. Diese übertrug sie ein Jahr später auf ihren ersten Computer, wo sie als FemBio-Datenbank mit inzwischen über 32.000 biographischen Einträgen nach 250 verschiedenen Parametern (z.B. Geburtstag, Berufszugehörigkeit, Ortsname) abgefragt werden können. Suchen Journalistinnen nach spezifischen Informationen zu einzelnen Frauen und vor allem Frauengruppen, wollen LehrerInnen mehr über bedeutende Frauen im Mittelalter aus ihrer Region erfahren oder Frauenbeauftragte einen Stadtrundgang organisieren, ist die Datenbank ein unverzichtbares Hilfsmittel. Luise Pusch ist mit dieser systematischen Betrachtungsweise, die sie aus der Linguistik mitbrachte, die Begründerin der systematischen Frauenbiographieforschung. Die besten Beispiele für ihre Kunst der analytischen Zusammenschau sind ihre Nachworte in ihren frauenbiographischen Sammelbänden. Forschungsreisende, Schriftstellerinnen, Frauenrechtlerinnen, Physikerinnen, Varietékünstlerinnen – entscheidend ist, dass sich die Erinnerung an sie lohnt. Die Leben und Taten dieser Frauen bilden einen großartigen Kanon weiblicher Leistungen.
Gemeinsam mit Sibylle Duda gab Luise Pusch 1992 den ersten der insgesamt dreibändigen Ausgabe der WahnsinnsFrauen heraus. Wahnsinn wird darin einleitend weniger als ein psychiatrisches oder individuelles Problem denn vielmehr als ein gesellschaftliches gedeutet, nämlich als Protest gegen die Zumutungen der weiblichen Rolle. Trotz des guten Verkaufserfolges waren kritische Untertöne von feministischer Seite zu hören[3], auf die einzugehen sich lohnt, weil sich darin Argumente einer jüngeren feministischen Generation niederschlagen. So wurde bemängelt, dass die Frau im binär organisierten westlichen Denken die Rolle des Irrationalen zugesprochen bekommt, so dass „der Wahnsinn zu einer Essenz des Weiblichen“ wird. Hierbei wird jedoch die bewusste Polemik in Puschs These übersehen, nämlich dass „der Wahnsinn der Frauen … verschwinden wird, wenn das patriarchale Wahnsystem verschwindet“ und ebenso ihren siebenzeiligen „Minimalkatalog für einen Neuanfang“. Die bittere Ironie entging der Kritikerin ebenso wie die Tatsache, dass Pusch einen Text zu verfassen hatte, der eine Anzahl von Biographien thematisierte und inhaltlich bündeln sollte. Pusch verweist in ihrer Replik[4] auf die Naivität eines Glaubens, demzufolge Wissenschaft sich chronologisch entwickele und immer genauer oder besser werde.
Im Lauf der Jahre hatte sich die Frauenbewegung von der Kritik am Mann verabschiedet und begriffen, dass die Geschlechterungleichheit ein Herrschaftsverhältnis ist, das auf allen Bühnen des sozialen, kulturellen und politischen Lebens bedient werden kann – in der Wirtschaft, im Internet, durch die Kultur, und eben durch die Sprache. Luise Pusch nimmt hier einen wichtigen Platz ein, denn sie schafft eine Vernetzung zwischen Wissenschaft und Praxis. Macht- und Herrschaftsverhältnisse können durch die Sprache hergestellt werden, und genauso kann die Zerstörung dieser Verhältnisse durch einen kritischen oder ironischen Sprachgebrauch angepeilt werden.
In diesem Zusammenhang ist eine Stellungnahme von Gudrun-Axeli Knapp nützlich,[5] die anregende Gedanken zu der immer wieder aufgegriffenen Behauptung entwickelt, wonach man Frauen nicht mehr unter dem Begriff „Frau“ subsumieren könne und es heute nur noch wichtig sei, „Vielfalt und Widersprüchlichkeit zuzulassen“. Knapp lehnt die postmoderne Annahme ab, wonach man nicht über Gruppen sprechen könne, da das ihrer Ansicht zufolge darauf hinauslaufen würde, die sozialen Strukturzusammenhänge von Frauenunterdrückung aus dem Blick zu verlieren. Sie hält an einer doppelten Aufgabe der feministischen Theoriebildung fest und fordert, dass man „die Unterdrückung von Frauen in ihrer endlosen Varietät und monotonen Ähnlichkeit“ analysieren solle. Also: zum einen die Frau als Einzelperson mit ihren eigenen Erfahrungen, und zum anderen die Frau innerhalb einer Gruppe innerhalb gesellschaftlicher Herrschaftszusammenhänge.
Eine solche janusköpfige erkenntnistheoretische Position scheint mir für die künftige Geschlechterforschung und –publizistik sinnvoll, und Luise Pusch nimmt darin ihren wichtigen Platz ein. Würde man das binäre Denken abschaffen, hätte das die Ignorierung der noch immer binär gespaltenen gesellschaftlichen Machtverhältnisse zur Folge. Man sollte angesichts der noch immer erschreckenden Benachteiligung von Frauen in vielen gesellschaftlichen Bereichen auch Frauen als Gruppe nicht aus dem Blickfeld verlieren. Es kann sonst passieren, dass die „neue“ Richtung von der nachfolgenden Generation ebenso der Einseitigkeit geziehen wird, wie es die „alte“ Generation heute erlebt. Das heißt nicht, dass feministisches Gedankengut sich nicht selbst hinterfragen darf. Jede lebendige Wissenschaft muss sich weiter entwickeln, und es bleibt den jungen nachfolgenden Wissenschaftlerinnen unbenommen, sich von „traditioneller feministischer Argumentation“ abzusetzen und die feministischen „Mütter“ abzustrafen. Das ist der Gang der Geschichte. Zugleich muss aber die Leistung Luise Puschs gesehen werden, die darin bestand und besteht, feministisches Gedankengut mit beißender Ironie und schwarzem Humor sprachlich so treffend „an die Frau“ zu bringen, dass Veränderungen auf breiter gesellschaftlicher Ebene stattfanden. Ist das ein unhinterfragter Zirkelschluss? Nein, es ist ein Stück historischer Wirklichkeit.
In der Musikwissenschaft, die ich vertrete, sind neuerdings Versuche zu finden, Identitätsentwürfe und Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses nicht nur ideengeschichtlich festzumachen, sondern auch die Materialitäten und Auswirkungen auf Körper und Gefühlsweisen zu erfassen. Hier wird klar, wie wichtig Luise Puschs Auseinandersetzung mit der Sprache ist. Man hat endlich gemerkt, dass die Geschlechterhierarchie nicht allein durch Quotenregelungen, Frauenbeauftragte oder Gesetzestexte angegangen werden kann, sondern dass sie unserer Kultur inhärent ist und wir sie unbewusst bestärken, wenn wir die Herrschaftssprache, die Frauen ausblendet oder unterordnet, unkritisch reproduzieren..
Es ist doch erstaunlich, wie der gute alte Feminismus durch die Grapschereien des designierten US-Präsidenten Trump medial aufgewertet wurde und Tausende von Frauen begannen, sich Demütigungen, die ihnen durch zynische Bemerkungen oder sprachliche Diffamierung von männlicher Seite zugefügt wurden, öffentlich bekannt zu machen. Gleichzeitig müssen wir mit der Tatsache umgehen, dass, um aus einem Blog von Luise Pusch zu zitieren, 42% von den weißen Frauen für Trump stimmten, von den weißen Frauen ohne Collegeausbildung waren es sogar 53%. Das zeigt uns wiederum, wie modern und wichtig der Ansatz von Luise Pusch ist, und wie viel noch zu leisten ist. Es geht hier nicht um einen Kampf Mann gegen Frau, da auch Frauen sexistische Grundsätze vertreten können. Es geht darum, sich bewusst zu machen, wie viele Millionen Frauen auf unserem Erdball noch an ihrer gesellschaftlichen Zweitrangigkeit zu leiden haben. Mehr als 100.000 Frauen erleben Gewalt in Partnerschaften in Deutschland, so war Anfang der Woche in der Presse zu lesen, und das sind nur diejenigen, die sich bei der Polizei melden. Ich denke an Millionen genitalverstümmelte Mädchen, an verheiratete Minderjährige und an Zwangsprostituierte. Jede einzelne erleidet einen psychischen Mord und kann kein normales Leben mehr führen. Der Abbau des Sexismus ist genau wie der Abbau von Rassismus einzuüben, und da sind die Glossen unserer heutigen Preisträgerin ein ideales Fundament, da sie auf leichtem Wege zu Verhaltensänderungen führen.
Dafür und für ihre jahrzehntelange Hartnäckigkeit gebührt ihr Dank.
[1] Luise Büchner: Weibliche Betrachtungen über den Ring des Nibelungen, in: Die Frau. Hinterlassene Aufsätze, Abhandlungen und Berichte zur Frauenfrage. Halle 1878, 358-369. Nachgedruckt in: Frau und Musik, hg. von Eva Rieger, Frankfurt/M. 1980, 218.
[2] Stichwort Pusch, Luise F., in: Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung, hg. von Renate Kroll, Stuttgart/Weimar 2002, S. 327.
[3] Annette Schlichter: „Frauen Wahnsinn WahnsinnsFrauen: Überlegungen zur Re/Produktion einer Analogie“, in: Freiburger FrauenStudien 1.(1). 1995, S. 7-22.
[4] Luise Pusch: „Streng, aber ungerecht. Antwort auf Annette Schlichter“, in: Freiburger FrauenStudien 1.1. (1995), S. 23-24.
[5] „Macht und Geschlecht. Neuere Entwicklungen in der feministischen Macht- und Herrschaftsdiskussion“, in: Gudrun-Axeli Knapp, /Angelika Wetterer (Hg.): Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg 1995, S. 287-321.
0 Kommentare
1 Pingback