Peter Brunners Buechnerblog

Kategorie: Texte (Seite 5 von 17)

Alexander Büchner zum 187.

Am 25. Oktober 1827 wurde Alexander Büchner in der Darmstädter Grafenstraße geboren.

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Das einzig bekannte Foto des Büchner’schen Hauses in der Darmstädter Grafenstraße, wo Alexander Büchner 1827 geboren wurde

 

Ich habe hier schon einmal über seine Sympathie mit den Kämpfen der Polen um ihre Unabhängigkeit berichtet. Das hier folgende „5. Polenlied” aus seiner allerersten Buchveröffentlichung passt, finde ich, sehr gut auf die Verzweiflung und daraus folgende Allmachtsphantasie, die viele angesichts der Ungerechtigkeit auf der Welt gelegentlich packt. Dann ist es ein naheliegender Wunsch, das Ganze mal schnell zurechtzurücken – allerdings spricht das ein 19-jähriger halt leichter aus als ein älter und bedächtig Gewordener …

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Alexander Büchner (1827 – 1904) Ausschnitt aus einer Fotografie

Polenlieder aus dem Februar 1846

5.

Höret, horcht und lasst euch fragen,
Ist kein Teufel zu erjagen?
Ist die Hölle wirklich kalt?
Ist kein Satan aufzutreiben,
Gern möcht‘ ich mich ihm verschreiben
Für ein Stündchen Allgewalt

Für ein Stündchen Macht in Händen,
Da Gerechtigkeit zu spenden,
Wo das Unrecht Recht sein muß,
Hier vor Hungertod zu wahren,
Dort mit Blitzen d’rein zu fahren
In des Reichen Überfluß

Patrioten zu erretten
Von des Henkers Strang und Ketten
Und des Kerkers Einerlei,
Um Despotenmacht zu brechen,
Um zum Volke laut zu sprechen:
Stehe Volk!, sei frei, sei frei!

Auf Deinen Geburtstag tranken wir alle zusammen Deine Gesundheit

Am 17. Oktober 1813, heute vor zweihundertundeinem Jahr,  wurde Georg Büchner in Goddelau geboren.

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Helmut Lortz: Druckstock zum Holzschnitt „Georg Büchner”

 

 

Hier der einzig erhaltene Brief seiner Mutter Caroline, geb. Reuß, an ihn aus Darmstadt ins Exil nach Zürich, kurz nach seinem 23. Geburtstag und kurz vor seinem Tod am 19. Februar 1837

 

30. Oktober 1836. Von Caroline Büchner nach Zürich

Darmstadt den 30ten Oktober

Lieber Georg!

Welche Freude als Dein Brief vom 25ten Oktober das Postzeichen Zürich darauf ankam. Ich jubelte laut; denn obgleich wir uns gegenseitig nichts sagten; so hatten wir alle große Angst, und wir glaubten kaum daß Du glücklich über die Gränze kommen würdest. Die Sache hat mir vielen heimlichen Kummer gemacht, nun Gott lob auch dies ging glücklich vorüber. –

Wir waren die Zeit sehr beschäftiget, Mittwochs legte ich große Wasche ein, und Montags zuvor kammen Beckers aus Frankfurt und blieben bis Donnerstag, sie erkundigten sich sehr nach Dir, und freuten sich recht über Deine guten Aussichten, wir hatten einige sehr vergnügte Tage. Auf Deinen Geburtstag tranken wir alle zusammen Deine Gesundheit. –

CAROLINE

Das einzige Bild von Caroline Büchner

Wie Dein Brief ankam den 27ten biegelte ich gerade das letzte Stück, Vater war im Theather, ich kann Dir gar nicht sagen wie sehr er sich freute als er nach Hauße kam. Er stimmt ganz mit Beiter überein und ermahnt Dich dringend ja über vergleichende Anatomie Vorlesungen zu halten, er glaubt sicher, daß Du darin am ersten einen festen Fuß fassen und Dich am ehrenvollsten emphor helfen könntest. –

Willhelm war ohngefähr 14 Tage hier, und nun ist er seit Mittwoch nach Heidelberg mit Schenk abgereist. Mit Giesen war es für diesen Winter nichts. Ich kann Dir gar nicht sagen wie ich mich über diesen Jungen beunruhige, es ist noch ein gar zu großer Kindskopf, hat gar keinen Begrief vom Schaden, hat einen falschen Ehrgeitz, und ist hinter seinem Receptiertisch gar zu schro geworden. Wie wir Briefe von ihm erhalten, werde ich ihm schreiben, ihm Deine Addresse schicken, damit er auch an Dich schreiben kann. Antworte ihm nur gleich und ermahne ihn recht. Mathilde wird selbsten an Dich schreiben, sonsten ist alles bei uns beim alten. Den 25ten Ok: war Alexanders Geburtstag er wurde 9 Jahre alt, heute wird er solenn gefeiert, er hat sich 10 Jungens gebeten, der Chokolade ist bereits gekocht[,] könnte ich Dir doch auch eine Tasse einschenken. Onkel Georg ist bei seinem Leutnant, auch noch so ein Stück Stallmeister geworden. Der bekannte StallSchenk, zeither Stallmeister bei Prinz Louis ist am Nervenfieber gestorben, und nun reitet Onkel die Pferde vom Prinzen, er hofft auch die vom Prinzen Karl zu bekommen, und dann trägt es ihm immer 200 f ein. Das Reiten ist seine Liebhaberei, er ist sehr vergnügt darüber. –

Wenn Du hörst daß hier das Nervenfieber grasierte, so ängstige Dich nicht, es ist nicht so arg, als es die Leute machen, es sind zwar schon viele Menschen daran gestorben. Kürzlich starben aus einer Familie drei jungen Leute. Zwei Söhne und eine Tochter, sie wurden an einem Tage begraben, und gestern soll auch die Mutter gestorben sein. –

Der Vater ist Hoboist. Leider wurde kürzlich ein Mörder hingerichtet, die Kinder sahen ihm auf dem Markt den Stab brechen, und Louis ging mit Vater auf die Richtstätte; er hatte vor 2 Jahren einen Förster erschlagen. –

Wie es hier mit den Gefangenen geht weiß Gott, es ist alles still. –

Der Junge Baron von Bechtold ist Leutnant geworden, und wurde nach Butzbach versetzt, und heute hörten wir daß Herr Regierungs: von Bechtold Ministerialrath geworden sei. Dies unsere Neuigkeiten. – Ich kann nun gar nicht erwarten bis Dein nächster Brief kommt, lasse uns nur nicht lange warten, gehe nur recht unter Menschen und suche Dich zu zerstreuen. Doch hoffe ich, daß ich Dich nicht mehr zu ermahnen brauche, Dich von allem politischen Treiben entfernt zu halten, Du bist nun mitten darin. Du wirst Dich denke ich nicht anstecken lassen, es wird mir doch manchmal himmel Angst. – Morgen schreibe ich und Mathilde an Mina, sie dauert mich gar zu sehr, ich kann das Früjahr kaum erwarten, dann hoffe ich fest, sie bei uns zu sehen. Mathilde läßt Dich tausendmal grüßen; wie sie endlich anfing zu schreiben bekam sie Besuch, sie will es also aufsparen bis ich wieder schreibe. –

Vater schickt Dir hier ein Recept für Deine Nase, er bittet Dich sehr es einmal recht ernstlich und anhaltend zu gebrauchen, und ihm über den Erfolg zu berichten. Wie hast Du die Straßburger nach einander verlassen? hast Du die Tante Reuß noch gesprochen, w[arst] Du bei Himmlies? Wenn Du wieder schreibst so gieb mir Nachricht. Deine Kost und Logie finden wir sehr billig, freilich eine Kost wie bei Fräulein Jäkele wirst Du nicht leicht wieder finden, nun man muß sich an alles gewöhnen. Schreibe uns nur immer recht ausführlich, ich meine seit Du von Straßburg weg bist nun seist Du erst in der Fremde, in Straßburg glaubte ich Dich immer in meiner Nähe. Wirst Du denn mein Geschmier lesen können? Ich schreibe aber in einem solchen Tumult daß ich gar nicht weiß wo mir der Kopf steht. Großmutter grüßt Dich vielmals, schreibe ihr bald, weil es ihr Freude macht, sie ist immer sehr niedergeschlagen, denn sie sieht fast gar nichts mehr. Es ist sehr betrübt, und für uns alle traurige Aussichten. Alles grüßt Dich jung und alt, auch Ema die eben da ist, auch die träge Mathilde. Nun lebe wohl und schreibe bald wieder Deiner treuen

Mutter C: Büchner

Einladung zum Geburtstagsspaziergang am 12. Oktober 2014

Zu Georg Büchners diesjährigem 201. Geburtstag am 17. Oktober haben wir bereits zur Uraufführung des Aretino in Riedstadt auf der Büchnerbühne  eingeladen.

Bereits zum Sonntag vorher, dem 12. Oktober, lädt die Luise Büchner-Gesellschaft zu einem Stadtspaziergang auf den Spuren der Büchners und anschließend zu einem literarisch-musikalischen Treffen nach Darmstadt ein. Der Keller des „Pädagog” gehört zu den baulichen Überbleibseln aus Georg Büchners Darmstädter Zeit.

Die Büchnerbande – ohne Thomas Heldmann – im April 2013 vor der Erinnerungsplakette an Georg Büchners Schulzeit am Pädagog

 

 

Kinder- und Jugendzeit der Büchners in Darmstadt

Ein Spaziergang auf Schulwegen anlässlich Georg Büchners 201. Geburtstag
Sonntag, 12. Oktober 2014, 16 Uhr
Ecke Grafenstraße/Elisabethenstrasse, Darmstadt

Mit Agnes Schmidt und Peter Brunner. Mitwirkende: Sigrid Schütrumpf (Lesung), Hans-Willi Ohl und Edgar Illert (Musik)

Ende im Theaterkeller des Alten Pädagog, Pädagogstraße, gegen 19 Uhr

Teilnahmegebühr für beide Veranstaltungen 10 Euro, für Mitglieder 5 Euro

 

In Darmstadt ist nach den Zerstörungen von 1944 wenig Authentisches aus der Zeit der Büchners übrig geblieben – aber immerhin genug, um eine Vorstellung vom Tagesablauf, den Lebensumständen der Familie und ihrem gesellschaftliches Umfeld zu gewinnen. Kurz vor Georg Büchners 201. Geburtstag lädt die Luise Büchner-Gesellschaft auf die Büchner-Spuren in Darmstadt ein: es scheint, als hätte Caroline Büchner geb. Reuß jedes ihrer Kinder in einer anderen Wohnung auf die Welt gebracht – von 1813 bis 1827 ist die Familie sieben Mal umgezogen! Diesmal wollen wir uns bei einem kleinen Spaziergang besonders über die Schulen und die Schulwege unterhalten. Georg und die Brüder besuchten das einzige Darmstädter Gymnasium, das Pädagog, aber hatten sie auch eine „Grundschule“?

Die Büchnerbandee - ohneThomasHeldmann - im April 2013 vor dem Pädagog

Die Büchnerbande – ohne Thomas Heldmann – im April 2013 vor dem Pädagog

Und wo wurden die beiden Mädchen beschult? Und welche Schulen besuchten die „einfachen Leute“ in Darmstadt zu dieser Zeit?

Am wieder aufgebauten Alten Pädagog, wo Georg Büchner und seine Brüder zur Schule gingen, angekommen, hören Sie im Theaterkeller Musik von Hans-Willi Ohl und Originaltexte der Büchners über ihr Darmstadt.

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Peter Brunner

 

von Peter Brunner

Frank Wedekind – Enfant terrible auf Büchners Spuren?

Die Luise Büchner-Gesellschaft veranstaltet im diesem Herbst zwei Abende zu Frank Wedekind

zu denen hier herzlich eingeladen wird:

 

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Am Dienstag, dem 30. September um 19 Uhr, im Literaturhaus (Kennedy-Haus), Kasinostr. 3

Lulu und die anderen – Frank Wedekinds Frauen und die Bohème

mit Cornelia Bernoulli und Bruno Hetzendorfer (München)

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts provozierte Frank Wedekind den Literatur- und Bühnenbetrieb mit seinem neuen Stil. Seine drastischen und freizügigen Texte wurden oft von der Zensur verboten. Die szenisch-musikalische Lesung anlässlich des 150. Geburtstags von Frank Wedekind schlägt einen rasanten Bogen mit Szenenausschnitten, Liedern, Tagebuchnotizen und Briefen des Autors, Kabarettisten und Schauspielers. Dem gegenüber stehen Zeugnisse und Zitate verschiedener Zeitgenossen; insbesondere von Frauen aus seinem Leben.

Gemeinsame Veranstaltung mit der Wedekind-Gesellschaft und der Leitung des Literaturhauses.

Eintritt: 6 Euro, ermäßigt 4 Euro

und

am Freitag , dem 7. November um 19.30 Uhr, Literaturhaus (Kennedyhaus), Kasinostr. 3

Frank Wedekind und Georg Büchner

Vortrag von Dr. Ariane Martin (Universität Mainz)

Wie kommt es, dass wie selbstverständlich gesagt wird, Wedekind stehe in der Nachfolge Büchners? Der Vortrag sichtet die wenigen Rezeptionszeugnisse, die von Wedekind selbst stammen, sowie die Zuschreibungen einer angeblich ausgeprägten Büchner-Rezeption aus seinem unmittelbaren Umfeld, auf die das verbreitete Bild von Büchner als Vorläufer Wedekinds zurückzuführen sein dürfte.

Gemeinsame Veranstaltung mit der Wedekind-Gesellschaft

Eintritt frei

Die Abfolge der beiden Veranstaltungen bietet auch derjenigen, die mit Wedekinds Leben und Werk weniger vertraut ist, die gute Gelegenheit, den Vortrag am 30. 9. als Einführung zu verstehen und dann am 7. 11. Frau Professor Dr. Ariane Martin, die gerade einen wichtigen Band zur frühen Rezeptionsgeschichte Georg Büchners* vorgelegt hat, zu hören.

* Ariane Martin (Hg.): Georg Büchner 1835 bis 1845. Dokumente zur frühen Wirkungsgeschichte. Vormärz-Studien Band XXXIV. 2014, Bielefeld, Aisthesis, ISBN 978-3-8498-1027-6, 386 Seiten, geb. EUR 39,80

 

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von Peter Brunner

„ … ein Mädchen zum Küssen – für jüngere Leute als mich.”

Am 31. August 1899 heiratete in Caen in der Normandie die 24-jährige Martha Bahlsen Alexander Büchner. Büchner war 72 Jahre alt und sich der Besonderheit des Altersunterschiedes durchaus bewusst. Die beiden führten, nach allem war wir wissen, eine glückliche Ehe und verlebten ein paar schöne Jahre zusammen. Sie reisten häufig, unter anderem für längere Zeit nach Nordafrika, und zogen schließlich in Marthas Geburtsstadt, nach Hannover, wo Alexander am 3. Juli 1904 starb. Das Grab, in dem auch die viele Jahre später, am 26. 2. 1949,  in Goslar gestorbene Martha lag, gibt es leider nicht mehr. Alexanders jüngerem Freund Elissen, dem dieser mit der Nachricht von der Hochzeit im Spaß angeboten hatte, er könne Martha ja nach seinem Tode heiraten, hat Martha deutlich zu verstehen gegeben, dass sie daran kein Interesse hatte. Sie hat nicht wieder geheiratet. Offenbar pflegten die Nachfahren in Darmstadt und Pfungstadt den Kontakt mit Martha, aus Pfungstadt ist überliefert, dass sie nie ohne Kisten mit Plätzchen  anreiste.

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Schlecht abfotografiertes Foto (mit kleinem Selbstportrait…)
des Bahlsen-Kiosks auf der Darmstädter Jugendstilausstellung von 1914 

 

In seinen hier schon öfter zitierten Memoiren hat Alexander Büchner mit dem Bericht über seine zweite Ehe ein besonders schönes Beispiel für seine große Fähigkeit zur feuilletonistischen Formulierung abgeliefert. Neben der Schilderung seiner Beziehung zu Martha findet sich hier übrigens auch wieder einer der häufigen Büchnertexte, in dem Geschwister liebevoll beschrieben werden.

 

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„ … ich bin zum Hädoniker geworden, das heißt ich gewann die Überzeugung, das diesseitige Leben sei sich Selbstzweck und bestehe aus einer ungleichen Mischung von Annehmlichkeiten und deren Gegenteil. Diese Mischung hängt von den persönlichen Anlagen und Verhältnissen eines jeden ab, und zwar erhält mit zunehmendem Alter das Unangenehme das Übergewicht. Von dem Augenblicke an, wo Letzteres eintritt, ist der Mensch bankerott und tut am besten die Bude selbst zuzumachen. So war die Lebensanschauungen im klassischen Altertum. Brutus stürzte sich in sein Schwert, um seinen Feinden nicht in die Hände zu fallen. Unsere grimmen germanischen Vorfahren, sobald sie fühlten, dass sie zu nichts mehr nütze seien, schnitten sich als bouches inutiles tödliche Runen in die Brust. In der christlichen Welt dagegen pflegt man diese Art von Bankerott mit dem hässlichen Namen des Selbstmordes zu bezeichnen und als schwere Sünde zu verbieten. Dennoch fängt dieselbe mehr und mehr an wieder in die Mode zu kommen und nicht als etwas ästhetisch Widerwärtiges angesehen zu werden. Unsere seitherige Bekanntschaft mit den Religionen des Orients und namentlich dem Buddhismus hat in gleicher Weise gewirkt, und so gelangte auch ich mit zunehmendem Alter zu der Überzeugung von dem schließlichen Sieg des Bösen über das Gute, des Ahriman über Ormuzd, desTyphon über Osiris, der Schwäche über die Kraft, des Hässlichen über das Schöne, des Doit über das Avoir, welcher mit dem Alter hereinbricht. Wenn ich mich umsehe, gewahre ich nur die Lücken, welche das Todesgeschick in die Reihen der Mitlebenden gerissen hat.

So sind zunächst meine Geschwister dahingegangenen, vor mir, dem jetzt 72-jährigen Nesthäkchen, erst der apolloartige Denker und Dichter Georg, dessen ich mich nur noch aus dem Dunkel meiner frühesten Kindheit erinnere; dann die intuitive Luise, mit dem idealschönen Gesicht, aber ihrem durch einen Unfall verkrümmten Körper; ferner der fidele, freizügige Wilhelm, der Krösus der Familie als Erfinder des künstlichen Ultramarins, der eines Tages unserer Mutter ein Stück blauen gebrannten Ton auf ihren Arbeitstisch legte mit den Worten: „Hier habe ich eine Million!“ Endlich die edle aufopfernde Mathilde, mit dem Felsencharakter, welche, wenn die Mutter bettlägerig war, an uns jüngeren und zumal an mir Mutterstelle vertrat, und schließlich der „Kraft und Stoff,“ (Ludwig – pb) fast mein Altersgenoss mit dem weichen Gemüt und dem spekulativen Kopf, der ideologische Materialist, in welchem christliche Menschenliebe und sprödeste Hinnahme der nacktesten Tatsachen so wunderlich zusammenflossen.

Nun komme ich selbst an die Reihe, und die schimmernde Salzflut hebt mir ihre durchsichtigen Wellen entgegen, indem sie zu sagen scheint „was tust du noch da oben auf dem Sand? Wie deine Geschwister, so sind auch deine teuersten Freunde verschwunden, der edle Franz Wirth, der redegewandte Rudolf Fendt, der spöttische Wilhelm Franck, der tiefsinnige Ästhetiker Leon Dumont, der fuchsrote August Becker vom jüngsten Tag, der unglückselige Karl Ohly, der wackere Dr. Wilhelm Zimmermann. Du hast lange genug gelebt, geliebt und genossen und fängst an, nur noch zu leiden. Deine erste Frau ist seit 20 Jahren tot, Dein Sohn mit 35 Jahren versorgt, Du selbst hast die Altersschmerzen von Kopf bis zu den Füßen bei dir im Hause; schlag´ den Schmerz ein Schnippchen und komm!“

Unter solchen Gedanken stand ich eines Morgens elf Uhr in der Sonne, Rue Bicoquet zu Caen vor meinem Hause und sah zu, wie der übliche Kohlenvorrat abgeladen wurde; und wie ich mich herumdrehe, steht vor mir, vom Sonnengold umflossen, ein schlankes Mädchen, im einfachen hellen Kattunkleidchen, ein Strohhütchen auf den goldbraunen Wellen des Haares über einer glatten Denkerstirn, Nixenaugen und einer geraden Nase über einem etwas breiten schwellenden Mund und fragt mich, in etwas mangelhaftem Französisch, ob ich der Professor so und so wäre. Es war keine idealschöne aber über alle Begriffe anmutige und anziehende Erscheinung.

„Leicht und frei wie aus dem Nichts gesprungen“, kräftig und zierlich zugleich, mit einem Wort, ein Mädchen zum Küssen – für jüngere Leute als mich.

„Der Professor, den Sie suchen, bin ich – leider,“ antwortete ich auf Deutsch; „womit kann ich Ihnen dienen?“

„Ich möchte gern gut Französisch lernen, und wie ich dies von einigen deutschen Damen höhre, kann man das an ihrer Fakultät.“

„Je nachdem man sich danach anstellt,“ versetzte ich, „und sie scheinen mir richtig dazu angelegt.“ Ein Wort gab das andere, und ich erklärte der Dame, dass ich schon mehreren anderen deutschen und englischen Studentinnen als onkelhafte Professor gedient und denselben zu vollgiltigen Diplomen verholfen habe.

Ich gewann das herzige Kind schnell sehr lieb, und da ich keck genug war zu denken, dass sie diese Gefühle im stande sei zu teilen, so heirateten wir uns bald darauf, da ich gerade in Ruhestand versetzt worden war. Wir zogen ans Meer, und ich kann immer noch ins Wasser springen, welches jeden Tag, bald morgens, bald abends mit der Flut seine Aufwartung macht und, bald sanft lispelnd, bald mit Donnerstimme fragt: „Ist´s immer noch nicht gefällig?“ Ich aber stehe mit Martha ruhig auf dem Balkon unserer Villa Bijou, drehe meine Zigarette und meinen Schnurrbart und versetzte: „Abwarten! Nirwana!“

Alexander Büchner: Das tolle Jahr. von einem, der nicht mehr toll ist. Giessen. Emil Roth. 1900. SS 373 – 375

 

SPeterBrunner

von Peter Brunner

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