Mit unterschiedlichem Ernst habe ich hier bereits mehrfach Aretino erwähnt; immer im Zusammenhang mit einem Zitat Ludwig Büchners aus der Einleitung zur von ihm herausgegebenen ersten Werkausgabe des Bruders:

„Außerdem muß er in derselben Zeit noch ein zweites Drama vollendet haben, das nicht mehr vorhanden ist. Wenigstens schreibt er im September 1836, nachdem er von zwei fertigen Dramen schon in früheren Briefen gesprochen: „ich habe meine zwei Dramen noch nicht aus den Händen gegeben, ich bin noch mit Manchem unzufrieden und will nicht, daß es mir geht, wie das erste Mal. Das sind Arbeiten, mit denen man nicht zu einer bestimmten Zeit fertig werden kann, wie der Schneider mit seinem Kleid.” (Nachgelassene Schriften von Georg Büchner. Frankfurt, Sauerländer, 1850, S: 37) und „ … das dritte Drama, dessen Büchner Erwähnung thut, kann nur dasselbe sein, das schon in dem angeführten Straßburger Briefe vorkommt und von dem keine Spur aufgefunden werden konnte. Es handelte, wie aus mündlichen Mittheilungen des Dichters an seine Braut hervorzugehen scheint, von dem Florentiner Pietro Aretino. – Es ist bemerkenswerth, daß Büchner während der Fieberdelirien seiner Krankheit sich vergebend anstrengte, von etwas Mittheilung zu machen, das ihm Sorge zu machen schien. Der Tod schloß seine Zunge.” (a.a. O., S. 40) 

PietroAretinoTitian

Tizian: Pietro Aretino (Palazzo Pitti, Florenz)

Der Büchnerbiograph Jan-Christoph Hauschild schreibt:

Daß Büchner ein solches Drama bereits vollendet, wie Wilhelmine Jaeglé glaubte, oder auch nur angefangen hatte, ist nicht zu belegen – es sei denn, man wolle seine briefliche Bemerkung vom 20. Januar 1837, er »komme dem Volk und dem Mittelalter immer näher, jeden Tag wird mir’s heller«, historisch großzügig auf den Renaissanceschriftsteller Aretino beziehen. Es könnte sich lediglich um Mißverständnisse und Fehlinterpretationen handeln.

Nicht von der Hand zu weisen scheint aber die Annahme, daß Büchner sich mit Aretinos Leben und Werk beschäftigte. Der Schriftsteller war eine bekannte, weil vielgeschmähte Gestalt der Literaturgeschichte. Wahrscheinlich hat Büchner in Darmstadt oder später in Straßburg den langen Artikel von Philarète Chasles über Pietro Aretino, »sa vie et ses œuvres«, gelesen, der Ende 1834 in der »Revue des Deux Mondes« erschienen war, denn im selben Jahrgang, im Heft vom 30. Juni, war Alfred de Mussets Komödie »On ne badine pas avec l’Amour« abgedruckt, die als eines der Vorbilder für Büchners Lustspiel gilt, und in der folgenden Lieferung vom 15. Juli 1834 hatte Büchner in George Sands »Lettres d’un voyageur«, einem Bericht über ihre Italienreise, zwei Sätze entdeckt, die er später als Motto für »Leonce und Lena« verwendete.

Der drastische, prärealistische und volksnahe Ton von Aretinos Komödien sowie seiner »Kurtisanengespräche« (»Ragionamenti«) wird Büchner ebenso fasziniert haben wie dessen programmatisches Bekenntnis zur Naturwahrheit der Kunst, sein politischer Anspruch ebenso wie seine korrupte Ehrlichkeit. 

Wenn man bei aller gebotenen Zurückhaltung an der Existenz eines abgeschlossenen »Aretino«, eines »Gangsterstücks«, wie Peter Hacks mutmaßte, festhalten möchte, würde das voraussetzen, daß Büchner sein Manuskript kurz vor dem Tod in die Hand eines Verlegers, eines Journalisten oder eines vielleicht selbst schriftstellernden Freundes gab und sämtliche Vorarbeiten vernichtete und daß sich ferner auch in seinem Nachlaß keinerlei Spuren fanden, die auf einen entsprechenden Kontakt schließen ließen. Es müßte sich dabei um eine Zürcher Persönlichkeit handeln, die dem Kreis von Büchners hessischen Landsleuten so fern stand, daß man bei ihr keine Handschriften des Verstorbenen vermutete.

Dabei käme wie vielleicht kein anderer sonst der englische Schriftsteller Thomas Lovell Beddoes (1803-1849) in Frage. Den Schönleinschüler und -freund, der 1836/37 in der Nachbarschaft wohnte, verband vieles mit Büchner: die Herkunft aus einer Arztfamilie, das absolvierte Medizinstudium, die Spezialisierung auf Vergleichende Anatomie, ein gleichzeitiger Aufenthalt in Straßburg 1832/33, die Begeisterung für Tieck und Shakespeare, ein eminentes politisches Interesse und schließlich die schriftstellerischen Ambitionen (Versdrama »Death’s Jest-Book«, postum veröffentlicht 1850).

Daß Büchner Beddoes tatsächlich kennengelernt hat, ist jedoch nicht nachzuweisen, und so bleibt Büchners „Aretino“ weiterhin eine Legende von andauernder Faszination. (J.-C. Hauschild: Büchners »PIETRO ARETINO« – Eine Fiktion?, Begleittext zum Manuskript beim Drei Masken Verlag

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Aretino, Italiänischer Huren=Spiegel. dt. ca. 1655

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Aretino, Italiänischer Huren=Spiegel. dt. ca. 1655

 

J.-C. Hauschild hat bereits in den achtziger Jahren die Imagination dieses Stückes gewagt und ein Stück erfunden, wie es Georg Büchner vielleicht geschrieben hätte. Nach zwei szenischen Lesungen (am 29. Oktober 1983 im Marburger Schauspiel und am 28. Juni 1984 im Tübinger Zimmertheater) wird es nun an Georg Büchners 201. Geburtstag, am 17. Oktober 2014, in seiner Heimat durch die Büchnerbühne uraufgeführt.

Ich durfte Gast einer Probe der Büchnerbühne sein. Christian Suhr versteht das Zitat aus dem 10. Akt („Bei einem Spaziergang durch Mantua werden Pietro Aretino und Niccolo Zeuge einer Festnahme und machen Bekanntschaft mit einer Menschenmenge. Die neugierige Liebe des Künstlers zum einfachen Volk wird von diesem nicht erwidert.”) –

„Von Despoten wollt Ihr uns sprechen – Und wollt Eure eigenen Ketten nicht brechen!”

als Dreh- und Angelpunkt des Dramas; in dem Zitat erkennt er das Büchner’sche Hadern mit den Umständen seines Lebens.


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Probenszene

 

Er inszeniert vor einem „Brechtvorhang” als Tür zu zwei Szenerien rechts und links der Hauptbühne, der auch als Projektionsfläche dient, mit wie gewohnt zurückhaltendem Bühnenbild. Hauschilds sorgfältig in klassischem Versmaß verfasstes Stück bringt er fast 1:1 auf die Bühne; „ … sowohl aus Respekt vor dem Autor bei einer Uraufführung”, aber auch, weil die Geschichte des Aretiners, der aus Rom vor der Verfolgung des neuen Pabstes nach Mantua an den Hof der Isabella d’Este flieht, aber schließlich von dessen Schergen dort ermordet wird, „keiner Verbesserung durch die Regie bedarf” (Suhr).

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Probenszene

 

Eine ausführliche Besprechung der unbedingt sehenswerten Inszenierung und des Stückes folgt hier nach der Uraufführung.

 

Die Darmstädter Luise Büchner-Gesellschaft bietet ihren Mitgliedern und weiteren Interessentinnen Eintrittskarten und die Organisation von Fahrgemeinschaften für den 17. Oktober an:

 

Freitag, 17. Oktober
Theaterbesuch in Riedstadt/ Leeheim.
Georg Büchners  201. Geburtstag feiert die Leeheimer  Büchnerbühne mit der Uraufführung des Stückes Aretino – eine Fiktion von Büchnerbiograph Jan-Christoph Hauschild. Für unsere Mitglieder werden wir  30 Eintrittskarten reservieren lassen.  Bitte melden, wenn Sie mitkommen möchten. Die Karten kosten 15 Euro. Gern organisieren wir Fahrgemeinschaften. Uhrzeit  wird noch bekannt gegeben!
Anmeldung bis 30. September bei Frau Ilse Kuchemüller, Tel.: 06151/44400;
Email: ilse.kuchemueller@t-online.de

Der Vorverkauf des Theaters mit Informationen über weitere Aufführungstermine ist hier zu erreichen.

Wer das nicht mehr abwarten kann und/oder Einblick in die Arbeit des Ensembles nehmen möchte, kann am Sonntag, dem 28. September um 18 Uhr zur öffentlichen Probe ins Theater kommen.

 

Nachtrag: Inzwischen habe ich in meinem „Alltagsblog” SaubereSchweine berichtet, wie ich mich mit Literatur zum Thema versorgt habe

 

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von Peter Brunner