„Ihr werdet überrascht sein, wenn ihr mich besucht …“
schrieb Georg Büchner am 20. November 1836 an seine Familie. Im Februar 1837 ist er gestorben – erst 1875, 39 Jahre später, sind seine Geschwister zusammen nach Zürich gereist.
Der Krautgartenfriedhof in Zürich
Wir nutzen die Gelegenheit, erstmals vor Publikum im Darmstädter Literaturhaus, einen Blick auf drei von ihnen zu werfen, die bis dahin einflussreiche Prominente geworden waren. Bei Georgs Tod waren sie gerade mal 21, 16 und 13 Jahre alt, aber der große Bruder war ihnen ein Leben lang betrauertes und bewundertes Vorbild.
Eingeladen hatte uns die Gesellschaft Hessischer Literaturfreunde, deren Geschäftsführer, unser Freund Johannes Breckner, leider stimmlich indisponiert (Alles Gute, Johannes!), uns höchst liebenswürdig vorstellte.
Heiner Müller hat in seine Büchnerpreisrede 1985 „Die Wunde Woyzeck“ genannt, die Büchner gerissen hat: „Die Wunde Heine beginnt zu vernarben, schief; Woyzeck ist die offene Wunde. Woyzeck lebt, wo der Hund begraben liegt, der Hund heißt Woyzeck. Auf seine Auferstehung warten wir mit Furcht und/oder Hoffnung, daß der Hund als Wolf wiederkehrt.“
Wir befragen die am Grab des Bruders Versammelten, den Unternehmer und Politiker Wilhelm, die Frauenrechtlerin Luise und den „Welterklärer“ Ludwig: schmerzte die Wunde Georg? Wo findet sich das Erbe des viel zu früh verstorbenen großen Bruders in ihrem Leben? Welche Hoffnung auf Auferstehung, auf Verwirklichung seiner Ideale haben sie sich bewahrt?
Und wir lüften ein Geheimnis, das bisher ungelöst blieb: was hat es mit dem Grabstein-Rest auf sich, der heute im Museum steht, aber angeblich von der Stadt Pfungstadt sträflich mißachtet wurde?
Hedwig Richter im Büchnerhaus vor dem Relikt des GrabsteinsDes Rätsels Lösung
Die Aufzeichnung der öffentlichen Veranstaltung vom 5. Dezember 2025 sendet Radio Darmstadt am Donnerstag, dem 11.12., um 17 Uhr live auf 103,4 Mhz, auf DAB und live im Internet.
Wie immer findet sich die Sendung anschließend in den podcastportalen und hier.
„Sich anvertrauen“ – Affidamento, die feministische Parole der italienischen Philosophinnengruppe Diotima, brachte die promovierte Politikwissenschaftlerin, Journalistin, Autorin und Übersetzerin Antje Schrupp zum Feminismus. Für sie ist nicht die Gleichheit von Frauen und Frausein entscheidend, sondern gerade ihre Verschiedenheit. Antje Schrupps Überzeugung „Dem eigenen Begehren folgen“ verlangt, das eigene Frausein in Auseinandersetzung mit anderen Frauen neu zu bestimmen. So stehen die (authentischen) Beziehungen und Netzwerke von Frauen im Mittelpunkt ihrer Politik und ihrer Freiheit; der Parteienpolitik und dem Parlamentarismus obliegt hingegen die Aufgabe, die Voraussetzungen für freie Entscheidungen zu schaffen. Die Luise Büchner-Gesellschaft zeichnet mit dem Luise-Büchner-Preis 2025 eine engagierte Publizistin aus, die sich für das Begehren der Frauen einsetzt, historische Bezüge erläutert und zu aktuellen Themen klar Stellung bezieht. Antje Schrupp nimmt auf der Basis „der Liebe der Frauen zur Freiheit und zur Welt“ teil am öffentlichen Diskurs, ist produktiv mit Podcast, Blog und Postings, wissenschaftlichen Artikeln und Buchveröffentlichungen. Mit Luise Büchner verbindet sie die Offenheit gegenüber Veränderungen, die Bereitschaft, Überkommenes in Frage zu stellen und Neues zu versuchen.“
Aus der Dankesrede:
“ … als wir in den 80er-Jahren Politikwissenschaft studiert haben, haben wir Männerpolitikwissenschaft studiert plus Hannah Arendt. Hannah Arendt gab es damals schon, aber das war die einzige Frau, die vorkam. Und ich fand diese Frauenliteratur, diese Frauenbuchlinien, für mich war das eine Erleuchtung zu sehen, wow, es gibt so viele Frauen, die Bücher geschrieben haben, auf die ich mich beziehen kann, die manchmal auch völligen Quatsch erzählt haben.
Aber allein, dass es diese Auswahl gab, auf die ich mich beziehen konnte, hat mich elektrifiziert, aber meine männlichen Kommilitonen nicht. Und ich glaube, das liegt nicht daran, dass sie uninteressiert sind, sondern ich glaube, es liegt daran, dass sie nicht vermuten, dass Frauen etwas zu sagen haben, was sie nicht auch selber sagen können. Ich glaube, wenn sie sagen, es ist doch egal, ob ein Buch von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurde, dann glauben die das wirklich, es ist egal. …
Und tatsächlich versuche ich die ganze Zeit zu vermitteln, dass es nicht egal ist, aber es ist nicht so leicht, wenn wir jetzt nicht zu so banalen Sachen kommen wollen, wie Frauen sind besser als Männer und so weiter, was ja alles nicht stimmt. Aber diese andere Qualität, die es hat, wenn man aus verschiedenen Perspektiven denkt, die müssten wir irgendwie in die Welt bringen, aber ehrlich gesagt, ich habe es auch keine Lust mehr, es den Männern hinterherzutragen. Das habe ich auch gelernt bei meinen Vorträgen. …“
Grußworte sprachen
die Vorsitzende de Luise Büchner-Gesellschaft, Bettina Bergstadt (links)
“ … Wie die Zweier-WG, wie wir es heute sagen würden, der Büchner-Schwestern, ist die Luise-Büchner-Gesellschaft auch nach 15 Jahren ein Raum, ein kleiner, aber feiner Raum, in dem unterschiedliche Frauen aus ihren Büchern lesen, Vorträge halten, in dem wir alle ins Gespräch kommen, uns anvertrauen. In einer Zeit, in der es um die Frauen- und Menschenrechte noch nicht zum Besten steht. … „
der Darmstädter Oberbürgermeister Hanno Benz (Mitte)
“ … Sehr geehrte Frau Bergstedt, sehr geehrte Frau Förster, ich will Ihnen auch nochmal danken, dass Sie auch in diesem Jahr wieder die Verleihung des Preises ermöglicht haben, sich mit Ihrer Arbeit und Ihrem Engagement an Luise Büchner erinnern und das auch hier in die heutige Zeit übertragen und übersetzen. Und wir tun als Wissenschaftsstadt es gerne, Sie dabei zu unterstützen. Im gemeinsamen Kampf gegen Demokratiefeinde, autoritäre Strömungen und extremistische Positionen sind alle gesellschaftlichen Kräfte gefragt. Und ich kann Ihnen versichern, Sie haben hierbei auch die Wissenschaftsstadt Darmstadt an Ihrer Seite. …“
und die Vorsitzende des Lions Club Louise (!) Büchner, Darmstadt, Marie-Christine Förster (rechts)
“ … Wenn wir heute Ihren Namen, Antje Schrupp, neben den von Luise Büchner stellen, dann ehren wir zwei Stimmen, die denselben Grundgedanken teilen. Freiheit ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verantwortung. Für uns Lions ist dieses Verständnis von Verantwortung zentral. Es prägt unser gemeinschaftliches Wirken. Freiheit ist kein Zustand, sondern ein Weg. Ein Weg, der von Haltung, Mut und Menschlichkeit getragen wird. …“
Die Laudatio hielt Dorothee Markert:
“ … Sie reist herum, obwohl die Bahn es ihr in letzter Zeit immer mehr erschwert, hält Vorträge, führt Diskussionen und meldet sich auf viele andere Weisen und an ganz unterschiedlichen Orten öffentlich zu Wort. Ich habe immer wieder Antjes Geduld und Ausdauer bewundert, mit der sie sich bemühte, anderen Menschen dieses andere feministische Denken, das Denken der Geschlechterdifferenz zu vermitteln. Und dabei lernte sie überall Menschen kennen, in ganz unterschiedlichen Kontexten. So entstanden an vielen Orten neue politische Freundschaften, die die Bereitschaft, sich für Neues zu öffnen, erleichterten. Und das galt natürlich für beide Seiten, denn auch Antjes Schrupp war und ist ja bereit, anderen zuzuhören und immer auch damit zu rechnen, dass diese sie mit einem Gedanken oder einer Position, die ihr zunächst fremd waren, überzeugen könnten. … Antje Schrupp schreibt dagegen am Ende ihres zuletzt erschienenen Buches unter allen Umständen frei, wir könnten aus dem Beispiel der drei Aktivistinnen, von denen das Buch handelt, auch Hoffnung schöpfen. Zitat, Gesetze und Institutionen, die sich geschlechtlicher und sexueller Freiheit verschrieben haben, können leicht wieder abgeschafft werden. Was sich aber nicht so leicht ändern lässt, ist das Bewusstsein über die Würde und die Freiheit von Frauen, das eine unermüdliche feministische Kulturarbeit im Wissen der Gesellschaft verankert hat. Diese tiefe Überzeugung lässt sich nicht mit einem autoritären Federstrich ausradieren. Sie lässt sich nicht ausmerzen, indem man ihr staatliche Finanzierung entzieht. Sie ist das, worauf sich die Freiheit der Frauen und letztlich die Freiheit aller Menschen gründet. …“
In Büchners Welt senden wir am Donnerstag, dem 27. November 2025, um 17 Uhr, den neuen podcast auf RadioDarmstadt– diesmal mit einem ausführlichen Bericht von der Preisverleihung. Kurz danach findet sich die Sendung als podcast hierund in allen gängigen podcast-Portalen.
„Sich anvertrauen“ – Affidamento, die feministische Parole der italienischen Philosophinnengruppe Diotima, brachte die promovierte Politikwissenschaftlerin, Journalistin, Autorin und Übersetzerin Antje Schrupp zum Feminismus. Für sie ist nicht die Gleichheit von Frauen und Frausein entscheidend, sondern gerade ihre Verschiedenheit. Antje Schrupps Überzeugung „Dem eigenen Begehren folgen“ verlangt, das eigene Frausein in Auseinandersetzung mit anderen Frauen neu zu bestimmen. So stehen die (authentischen) Beziehungen und Netzwerke von Frauen im Mittelpunkt ihrer Politik und ihrer Freiheit; der Parteienpolitik und dem Parlamentarismus obliegt hingegen die Aufgabe, die Voraussetzungen für freie Entscheidungen zu schaffen.
Die Luise Büchner-Gesellschaft zeichnet mit dem Luise-Büchner-Preis 2025 eine engagierte Publizistin aus, die sich für das Begehren der Frauen einsetzt, historische Bezüge erläutert und zu aktuellen Themen klar Stellung bezieht. Antje Schrupp nimmt auf der Basis „der Liebe der Frauen zur Freiheit und zur Welt“ teil am öffentlichen Diskurs, ist produktiv mit Podcast, Blog und Postings, wissenschaftlichen Artikeln und Buchveröffentlichungen.
Mit Luise Büchner verbindet sie die Offenheit gegenüber Veränderungen, die Bereitschaft, Überkommenes in Frage zu stellen und Neues zu versuchen.
Die 1964 in Weilburg an der Lahn geborene Politikwissenschaftlerin, Jornalistin und Redakteurin studierte Evangelische Theologie an der Johann Wolfgang Goethe Universität, machte ein Volontariat beim Evangelischen Presseverband Frankfurt und studierte anschließend Politologie, Philosophie und Evangelische Theologie in Frankfurt mit Abschluss „Magistra Artium“.
Parallel arbeitete sie als Freie Journalistin für Presse und Hörfunk und von 1989 bis 1999 als Redakteurin in der Pressestelle des Evangelischen Regionalverbandes Frankfurt. Nach Studienaufenthalten in Rom, Paris, Sao Paulo, London und Bern promovierte sie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt mit einer Arbeit zur weiblichen politischen Ideengeschichte, übernahm 2001 kommissarisch die Leitung der Evangelischen Öffentlichkeitsarbeit, war Redakteurin der Zeitung „Frauen unterwegs“ und Mitbegründerin des Online-Forums „Beziehungsweise weiterdenken“.
Antje Schrupp lebt in Frankfurt. Sie schreibt Bücher, Essays und Radiobeiträge, sie ist Bloggerin und veröffentlicht ihre Artikel in der Taz, Zeit-Online, Deutschlandfunk Kultur und vielen anderen Medien.
Zuletzt sind ihre Bücher „Reproduktive Freiheit. Eine feministische Ethik der Fortpflanzung“ (2022) im Unrast Verlag erschienen, „Schwangerwerdenkönnen. Essay über Körper, Geschlecht und Politik“ (2019) im Ulrike Helmer Verlag. Weitere Titel sind u.a. „Was wäre wenn? Über das Begehren und die Bedingungen weiblicher Freiheit“ und „Methusalems Mütter. Chancen des demografischenWandels“. Ihr neues Buch erscheint im August 2025: „Unter allen Umständen frei. Revolutionärer Feminismus bei Victoria Woodhull, Lucy Parsons und Emma Goldman“. Dabei legt Antje Schrupp die Bezüge zwischen dem sozialrevolutionären Feminismus Ende des 19. Jahrhunderts in den USA, den Anfängen des intersektionalen Feminismus und der aktuellen Debatte in den USA und weltweitoffen.
Bisherige Auszeichnungen: 2012: Publikumspreis „Goldene Blogger“ für ihren Blog antjeschrupp.com 2015: Hauptpreis der „Else-Mayer-Stiftung“ für ihr publizistisches Werk für die Rechte der Frauen
Der Luise Büchner Preis wird Antje Schrupp am 23. November 2025 in Darmstadt verliehen.
Wilhelm Büchner ist als sozial engagierter Unternehmer bekannt, in seiner Pfungstädter Ultramarinfabrik hat er Invaliden- und Krankenversorgung lange vor den gesetzlichen Vorschriften eingeführt. Zu seinen Aktivitäten im Reichstag, immerhin war er von 1877 – 1884 Abgeordneter, finden sich nur wenige Redebeiträge. In seinem letzen Amtsjahr hat er allerdings einen aussergewöhnlichen Beitrag geleistet: er stellt sich als Unternehmer gegen seine Kollegen, denen Profit vor Gesundheitsschutz geht.
Am 28. April 1884 steht im Reichstag eine Debatte über Zündhölzer an. Der Abgeordnete Wilhelm Büchner ist gefragt: Zündhölzer sind ein wichtiges Produkt in seinem Wahlkreis „Darmstadt – Gross-Gerau“ , zu dem auch sein Wohnort Pfungstadt gehört. Es geht um die Frage, ob und wie sich die deutschen Produzenten der schwedischen Konkurrenz erwehren können: dort werden moderne Streichhölzer produziert, die, anders als die deutschen „Weißphosphorzündhölzer“, ohne gesundheitliche Gefährdung der Arbeiter*innen hergestellt werden. Erwartet wird, dass Büchner sich für Importbeschränkungen ausspricht; tatsächlich kritisiert er aber, dass die deutschen Fabrikanten weiter die Gesundheit der Arbeiter*innen ruinieren (Phosphornekrose ist eine schreckliche Krankheit, s.u.) statt auf die moderne und unschädliche Produktion umzusteigen. Dies müsse nun eben durch die Konkurrenz erzwungen werden. Mit anderen Worten; Unternehmer, die trotz möglicher Alternativen gesundheitsgefährdend produzieren, haben keinen Anspruch auf staatlichen Schutz. Erst 1907 wurden die mörderischen Weißphosphorzündhölzer in Deutschland verboten.
Abgeordneter Büchner: meine Herren, ich erlaube mir, in dieser Frage, vorerst einmal einen kleinen, geschichtlichen Rückblick zu werfen auf die Entstehung dieser ganzen Industrie. Bekanntlich war in Württemberg, und zugleich in meinem Wahlbezirk Darmstadt, die Pflanzschule für die ganze Industrie, der Weißphosphorzündhölzer, sie hat sich von da weiter verbreitet und hat einen eminenten Aufschwung genommen, es ist kaum eine Industrie denkbar, die in wirtschaftliche Richtung von so großer Bedeutung war, die aber zugleich wieder bezüglich der Arbeiter so kolossale Nachteile mit sich geführt hat, wie gerade diese Industrie. Es lag deshalb vor allen Dingen Deutschland mit seiner entwickelten Zündholzindustrie ob, nach einem Mittel zu suchen, wodurch diese mit dieser Industrie verbundenen schwierigen Verhältnisse beseitigt werden konnten. Was ist aber geschehen? Während diese Fabrikation früher ganz immense Vorteile gehabt und bedeutendes Geld verdient hat, hat sie sich dann auf die geistig faule Haut gelegt, sie hat sich nicht bestrebt, das zu erreichen, was später die Schweden erreicht haben, und heute noch befinden wir uns auf demselben Stande, indem in Deutschland demBedürfnisse kaum annähernd entsprechend die Zündhölzer nach schwedischer Form dargestellt werden, als notwendig wäre, um den Weißphosphorzündhölzern entgegen treten zu können. Nun kommt die Regierung und macht den Vorschlag, dass doch ein Zoll erhoben werden soll auf die schwedischen, deren Vorteile eine außerordentliche Wirkung auf das ganze wirtschaftliche Leben bei uns haben, also da soll nun ein Zoll darauf gelegt werden.
Es wundert mich nach dem, was der Herr Regierungskommissar vorhin gesagt hat, in Bezug auf das Holz, dass er nicht unmittelbar daran geknüpft hat, man sollte die deutsche Industrie bei dem Wunsch, schwedische Zündhölzer darzustellen, dadurch begünstigen, dass man ihr auch das nötige dazu allein brauchbare Holz zollfrei eingehen lässt. Das war die eigentliche Aufgabe. Es wurde von ihm selbst zugegeben, und ich kann das nur bestätigen, dass in Süddeutschland das Espen- und Pappelholz kaum mehr aufzutreiben ist, dass man auch selbst überall die Pappelalleen eingehen lässt wegen der viele Nachteile derselben. Wenn also noch erst darauf gewartet werden soll, bis wir das betreffende Holz wieder aufs Neue ziehen, so müssen wir, um die Industrie zu unterstützen, vor allen Dingen das betreffende Holz, dass zu den Zündhölzchen dient, zollfrei eingehen lassen. Sie sehen hier aber wieder ein drastisches Beispiel, dass, wenn man systematisch nach irgendeinem bestimmten Zollschutz greift, man auch andere Industrien, denen man unter die Arme greifen will, systematisch damit ruiniert oder sie in Frage stellt.
(Sehr richtig! Links.)
Meine Herren, diese ganze Frage muss und kann nur von einem Gesichtspunkte ausgeleitet werden, und zwar dem, dass die Fabrikation mit weißem Phosphor so rasch als möglich unterdrückt werde. Gehen Sie, geben Sie uns billigeres Holz, und sie geben dadurch zu gleicher Zeit ein weiteres Mittel, dass die Weißphosphorfabrikation unterdrückt wird. Wenn die Konkurrenz gegen diese Zündholzsorten von außen durch schwedische Zündhölzer ungehemmt auftritt, dann haben sie das Mittel, dass endlich durchgreifend die schwedischen Zündhölzer in Deutschland werden, dargestellt werden. Aber sehen Sie einmal die Bestrebungen an, die in dieser Beziehung bestehen! Selbst in den größeren Fabriken ist man nur hier und da darauf gekommen, ähnliche Produkte herzustellen. Allerdings können Sie sagen, die kleine Hausindustrie ist das nicht im Stande, die kleine Hausindustrie soll begünstigt werden. Gut, wenn sie die schützen wollen, so komme ich auch auf das, was der Herr Regierungskommissarselbst gesagt hat, aber doch nicht eingeführt wissen will, zurück: dann geben Sie die schwedischen Zündhölzer frei und belasten Sie die Einfuhr, der Weißphosphorzündhölzer.
(Bravo! Links.)
(Verhandlungen des Reichstages. Bd. 75. 1884. Berlin 1884. 19. Sitzung am 28. April 1884. SS 359/360)
Häufig kommt in Gesprächen mit Schülergruppen im Büchnerhaus die Frage auf, wie es denn eigentlich sein könne, dass Georg Büchner mit 19 Jahren über eine so aussergewöhnliche Kenntnis von Literatur verfügen konnte, insbesondere, woher denn seine Kenntnis der Dramen der Weltliteratur komme.
Tatsächlich darf davon ausgegangen werden, dass Büchners Theatererfahrung überschaubar war; verschiedene Inszenierungen des gleichen Stücks hat er wahrscheinlich nie gesehen.
Wir dürfen aber sicher annehmen, dass er sich mit Freunden häufig zum Lesen mit verteilten Rollen traf und so seine Kenntnis – und Haltung – bildete. Aus zahlreichen Berichten wissen wir, wie selbstverständlich in Freundeskreisen und Salons gemeinsam laut gelesen wurde. Ich rate jungen Leuten gerne, das selbst einmal auszuprobieren. (Leider müssen sie oft genug erst einmal Distanz zur bis dahin unglücklichen Präsentation von Büchners Dramen im Unterricht finden.) So oft dieser Vorschlag zunächst auf abschätziges Lachen stößt, weiß ich doch inzwischen, dass es einige wirklich und mit echtem Vergnügen gewagt haben. Ich freue mich sehr, wenn diese im neunzehnten Jahrhundert so verbreitete Form der Literaturaneignung nicht gänzlich verloren geht. Mit Leonce und Lena kann so eine heitere Runde zusammenkommen (und dem selten erkannten abgründigen, überbordenden Humor des Stückes gerecht werden); dem Danton mit seinen fast filmscripthaften Szenenwechseln wird die Vorlesetechnik gerade da gerecht, wo moderne Bühnen heute auf Szenenbilder ganz verzichten. Unser Kopf ist allemal schneller als eine Drehbühne für den Weg Salon Gasse Club Gasse Zimmer … *
Dem Darmstädter Staatstheater muss dieser Vorschlag untergekommen sein – nicht zwangsläufig von mir, ich verzichte da gerne auf jede Verantwortung. In der Inszenierung für sechs Personen nach der Fassung von Christoph Mehler und Christina Zintl fehlen für ein gemütliches Leseszenario eigentlich nur bequeme Stühle, das Manuskript in der Hand der Agierenden und der größere Teil der eigentlich 28 von Büchner Vorgesehenen Personen sowie einige „Männer und Weiber aus dem Volk, Grisetten, Deputirte, Henker ect“. (Die ausufernde Unsitte, auch an großen Häusern die Personnage von Stücken zusammenzustreichen, ist übrigens nicht nur mangelnder Respekt vor dem Werk, sondern darüber hinaus auch Sparen am falschen Ende. In diesem Falle um so mehr, als ja noch nicht einmal „stattdessen“ Abertausende für das Bühnenbild aufgebracht wurden.)
Was bleibt: sechs Personen in weißen Strumpfhosen, darüber schwarzen Culottes (! – die SANS-Culottes trugen nicht etwa keine, sondern im Gegenteil gerade lange Hosen, im Unterschied zu den adligen Knickerbockers), stehen vor dem Bühnenvorhang und – tragen Reste von Büchners Text vor.
Das geschieht im Wesentlichen emotions- und bewegungsarm; das gelegentliche Übereinanderfallen und dramatische Lichtwechsel ändern nichts an diesem Eindruck. Und wenn schließlich Mathias Znidarec zu Saint-Justs großer Rede ansetzt („Es scheint in dießer Versammlung einige empfindliche Ohren zu geben, die das Wort Blut nicht wohl vertragen können….“) und er dann plötzlich doch in Wort und Gestus zugleich beweglich wird, da verzichtet die Inszenierung gerade dort auf die fürchterliche Nüchternheit, die große Interpret*innen diesem Text kalt und ruhig verleihen können.
Valerie Bolzano hat das für die Büchnerbühne mit unbewegter Mine und schneidender Sprache um Längen eindrücklicher präsentiert.
Insgesamt ist Suhrs Danton ein Theaterstück mit handelnden Personen, das das Original aus nachvollziehbaren Überlegungen strafft und konzentriert, während das Staatstheater in den besten Szenen gerade noch auf den unverwüstlichen Text setzt.
Suhr strafft das Stück und fragt:
… interessiert uns vor allem das Verhältnis von freiheitlichen Ideen zu deren kulturellen Voraussetzungen. Denn aus diesem resultiert die Wahl der politischen Mittel. Wenn beispielsweise Robespierre vom TERROR (hier vom Staat ausgehend) als einzigem Mittel zur Verteidigung der TUGEND spricht, erreicht der Text bis heute eine erschreckende Aktualität, die eine direkte Verbindungslinie von der französischen Revolution – der Geburtsstunde des europäischen Freiheitsgedankens – bis hin zum Schrecken beispielsweise des IS deutlich macht … Danton: „Ihr wollt Brot – und sie geben Euch Köpfe!“
Büchnerbühne
Unübersehbar stellt er damit seine Frage an den möglichst alles regulierenden Staat und zeigt die Aktualität des Büchnerschen Textes. Das lässt sich getrost nach Hause tragen.
Darmstadt will wissen
„Wieviel Demut oder Gemeinsinn braucht ein gutes Regieren? Wie viel Gestaltungsmöglichkeit hat jede*r einzelne bei sich und bei der Veränderung der Gesellschaft? Wie können sich Menschen wahrhaftig begegnen, zuhören, lieben? Wie die Einsamkeit angesichts des Todes überwinden? An etwas glauben, das größer ist als sie?“
Staatstheater Darmstadt
Mag sein, dass hinter dem verschlossenen Vorhang Antworten warteten, zum Vorschein kamen sie nicht.
Beide südhessische Inszenierungen verzichten auf den epikuräischen Danton. Ob sie es damit dem Herausgeber Gutzkow gleichtun, darf zu Bedenken gegeben werden. Zu Büchners größtem Ärger kürzte der die Erstausgabe, aber immerhin wusste er
„Als ich nun, um dem Censor nicht die Lust des Streichens zu gönnen, selbst den Rothstift ergriff, und die wuchernde Demokratie der Dichtung mit der Scheere der Vorcensur beschnitt, fühlt’ ich wohl, wie grade der Abfall des Buches, der unsern Sitten und unsern Verhältnissen geopfert werden mußte, der beste, nämlich der individuellste, der eigenthümlichste Theil des Ganzen war.“
Auf die Ambivalenz, die uns Büchner mit dem saufenden, hurenden Danton gegenüber dem jakobinisch, ja pietistisch strengem Robespierre zeigt, haben beide verzichtet. Es bleibt uns überlassen, zu entscheiden, ob das den Stoff konzentriert oder simplifiziert.
Jedenfalls dann, wenn wir den ganzen Text kennengelernt haben – und sei es in konzentrierter Runde und mit verteilten Rollen.
Von Peter Brunner
* Glaube keiner, das hier lese niemand. An dieser Stelle hatte ich eine beliebige Folge phantasiert und wurde harsch zur Ordnung gerufen. Jetzt ists die echte Folge der ersten Szenen … Danke, Dr. W.