Anlässlich des allfälligen Georg-Büchner-Gedenkens ergeben sich schöne Gelegenheiten, auch an seine verdienstvolle Familie zu erinnern. Kürzlich wurde in Darmstadt am Standort der früheren Gebäude des Kranken-, Armen-, Waisen- und Pfründnerhauses, Grafenstraße 9, am dort neu errichteten Fachärztezentrum durch die Investorengruppe Biskupek-Scheinert eine Gedenkplakette zur Erinnerung an Ernst Büchner angebracht. Der Vater der berühmten Geschwister lebte hier seit 1816 bis mit seiner Frau Caroline und den Kindern Georg, Mathilde und Wilhelm.

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Das Bild zeigt die Damen Rettig und Kaumeier, Ur-Ur-Ur-Enkelinnen (die Tochter natürlich noch eine Generation und ein Ur- weiter) von Ernst Büchner, Nachfahren seines Sohnes Wilhelm Büchner, und die Herren Fritz und Peter Soeder, Ur-Ur-Enkel Ernst Büchners und Nachfahren seines Sohnes Ludwig Büchner.

 

Fast gleichzeitig erscheint soeben das Inselbändchen meiner Freunde Boehncke und Sarkowicz „Versuchter Selbstmord mit Stecknadeln“. (Insel Bücherei 1372, Gebunden, 135 Seiten, ISBN: 978-3-458-19372-2, 14,95 €) . Die beiden haben die in medizinischen Fachzeitschriften veröffentlichten Texte Ernst Büchners zusammengestellt, herausgegeben und in einem klugen Nachwort kommentiert.

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Die Texte wären auch ohne die Verbindung zu Georg Büchner bemerkenswerte Zeugnisse der Entstehung einer kühl-naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, wie sie Anfang des 19. Jahrhunderts unter anderem von Medizinern entwickelt wurde. Ernst Büchners erster Bericht, der dem Büchlein den Titel gab, lässt sich als eiskaltes  Zeugnis von Menschen- und Tierversuchen ohne jede Emotion des Berichtenden lesen:
Eine junge Frau verschluckt aus Liebeskummer Näh- und Stecknadeln und bittet dann Dr. Büchner, sie aufzuschneiden und davon zu befreien. Stattdessen behandelt der sie mit Brech- und Abführmitteln und notiert ihre Mitteilungen, wann sie wie viele der Nadeln auf natürlichem Weg wieder ausgeschieden hat. Um die organischen Vorgänge hierbei möglichst präzise zu analysieren, schafft Büchner später einen Hund an, der über Tage mit verschiedenen Nadeln gefüttert wird; nachdem eine erste Portion tatsächlich ausgeschieden wird, ohne dass der Hund wahrnehmbar litt, wird er dann ein zweites Mal mit Nadeln gefüttert, erschlagen und seziert, „… und die Eröffnung der Bauchhöhle geschah so schnell, … daß man die peristaltischen Bewegungen des ganzen Darmkanals noch mehrer Minuten lang recht stark vor sich gehen sah“. Unsere Autoren bemerken im Nachwort: „Die lapidar mitgeteilte Tötung des Versuchs-Hundes, die Georg als zehnjähriger sehr wahrscheinlich miterlebt hatte, wird als Erinnerungsposten einer kindlichen Empörung lebendig geblieben sein“. Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass sich die Geschichte im Jahre 1823 ereignete, zu einer Zeit, zu der unsere heutige Sentimentalität gegenüber allem Lebenden (solange es nicht zerteilt in der Kühltheke liegt) noch nicht an der Tagesordnung war. Georg Büchner hat sicher Hausschlachtungen erlebt, zum Beispiel bei den Großeltern in Reinheim oder beim Onkel in Goddelau, und nicht erst seit Hermann Nitsch wissen wir, dass Schlachtfeste vergnügliche Angelegenheit sein können. Ob ihn das Töten von Tieren also eher abgestoßen oder fasziniert oder überhaupt nicht berührt hat, möchte ich lieber offen lassen: wie so oft, bietet sich auch hier zu leicht die Gelegenheit, unsere Interpretationen als Folie über Georg Büchners Leben zu legen.

Ernst Bücher jedenfalls hat die Patientin, die ihm später erneut von verschluckten Nadeln erzählt, dann noch einmal mehrer Tage lang eingesperrt und unter Kontrolle Nadeln aufnehmen und ausscheiden lassen. Im Laufe dieses Experimentes scheint sie 95 Näh-, 32 Steck- und 1 Stopfnadel(n) ausgeschieden zu haben. Bedauernd schließt er seinen Bericht mit der Mitteilung, dass es „die Patientin schließlich für besser befunden hat, sich einem anderen Arzte anzuvertrauen …“.

War Ernst Büchner ein ignorantes Monster, das sich seinem Gegenstand ohne jede Emotion näherte? Das ebenfalls abgedruckte „Gutachten über den Gemütszustand eines Soldaten im Augenblick seines Vergehens im Dienste, durch tätliches Vergreifen am Vorgesetzten„, mit dem er dessen Freispruch erwirkte, lässt sich anders lesen. Er kommt zu dem Ergebnis, „ … dieser Zustand, welcher von den Schriftstellern vorübergehender Wahnsinn genannt wird, ist unseres Erachtens … nach wissenschaftlichen Grundlehren … möglich und erklärbar…“, und später, dass es  „nach wissenschaftlichen Grundlehren … in den Grenzen der Möglichkeit liege, daß derselbe … in einem Anfall von vorübergehendem Wahnsinn, in sein Vergehen geraten sein könne…“.

Das Grundthema seiner Söhne Georg und Ludwig allerdings,

Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt ?

scheint ihn nicht zu interessieren – er beschränkt sich auf nüchternsten Augenschein. Vermutlich war der Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis ohne Empiriker wie Ernst Büchner nicht möglich; die Abkehr von vorwissenschaftlichen Erklärungen bedurfte wohl des scharfen Schnittes. Immerhin musste Büchner sich ja im Fall der „verbrannten Gräfin“, über den hier bereits berichtet wurde, noch 1850 mit der Behauptung herumschlagen, dass sich TrinkerInnen gelegentlich selbst entzünden und so ums Leben kommen könnten. Aus heutiger Sicht steht außer Frage, dass Ernst Büchner Empathie für seine PatientInnen bestenfalls anders als Ärzte heute, vielleicht auch gar nicht, empfand. Dass er aber, wie es Boehncke und Sarkowicz für wahrscheinlich halten („wahrlich verwandt“) und es Hubert Spiegel in seiner Rezension für die FAZ dann schon für sicher nimmt, “ .. nicht ohne Einfluss auf eine der zentralen Szenen im „Woyzeck“ geblieben sein dürfte: Gemeint ist das berühmte Erbsen-Experiment, das der Regimentsarzt an Woyzeck durchführt“, ist dann doch eine sehr starke Behauptung. Georg Büchner war umgeben von „Ärzten“ und „Wissenschaftlern“, die skrupellos experimentierten. Corinna Nauheimer hat 2008 in ihrer Magisterarbeit  (bei Heiner Bohencke) „Georg Büchner als Rebell – Revolutionäre Ideen während der Studienzeit in Gießen 1833/34″ wieder einmal erläutert, mit welchen Schraten von Universitätslehrern er sich dort herumschlagen musste. Johann Bernhard Wilbrand wird ja schon lange als Vorbild des Doktor im Woyzeck beschrieben. Vorbilder für unmenschliche Wissenschaftler gab es sicher reichlich.

Boehncke und Sarkowicz fragen nach der „Schreibsozialisation“ Georg Büchners und stimmen Jan-Christoph Hauschilds Urteil zu, dass „die phrasenlose Präzision in der Sprache“ väterliches Erbteil sei und schließen zu Recht: „Ernst Büchner hat über Fälle berichtet, Georg beschrieb auf der Basis von Fallgeschichten das seelische und körperliche Leiden anhand von literarischen Figuren. Georg Büchner hat gerichtsmedizinische Gutachten im Woyzeck, den Bericht des Pfarrers Oberlin im Novellenfragment Lenz aus ihren moralisch-juristischen Kontexten gerissen, um sie in die Fallgeschichten zu verwandeln, an denen ihm gelegen war – in literarische Fälle…. Das ist in der Tat das schönste Ergebnis dieser lehrreichen Lektüre: hier liegen wichtige Dokumente der Medizingeschichte vor, die uns gleichzeitig wertvolle Hinweise auf die Schreibwerkstatt Georg Büchners bieten.

Der abschließende Hinweis auf weitere Materialien im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, nämlich gedruckte und ungedruckte Hinterlassenschaften Ernst Büchners in Gutachten des Darmstädter Medizinalkollegs, darf als Aufforderung zu weiterer Recherche verstanden werden.