Das Hessische Landesmuseum in Darmstadt hat gestern nach jahrelanger Umbauzeit endlich wieder geöffnet.
Und der wunderbare Bau mit seiner aussergewöhnlichen Präsentation als Universalmuseum bestätigt in jedem Raum, in jedem Ausstellungsstück die Nähe zum Kanon der Geschwister Büchner: die Welt verstehen, indem sie angeschaut wird.
Die Ursprünge des Museums, die großherzogliche Sammlung in Darmstadt, die seit 1820 öffentliches Museum war, hat Georg Büchner 1833 zusammen mit seinem französischen Freund Georges Muston besucht. Auf der seiner website hat das Museum die eigene Frühgeschichte so zusammengefasst:
Ende des 18. Jahrhunderts vererbte Landgräfin Karoline ihrem Sohn Ludwig X. (1753–1830, ab 1806 Großherzog Ludewig I.) ihre Sammlung von Naturalien und physikalischen Instrumenten, die den Grundstock für die naturwissenschaftlichen Sammlungen des heutigen HLMD bildete. Während seiner Regierungszeit (1790–1830) fügte Ludewig I. wichtige Bestände hinzu: Glasgemälde, altdeutsche Altäre, niederländische Gemälde des 17. Jahrhunderts, Kupferstiche und naturgeschichtliche Objekte wie den Nachlass Johann Heinrich Mercks, der viele Säugetierfossilien beinhaltet. 1802 erwarb Ludewig I. das gesamte druckgraphische Werk Albrecht Dürers und Rembrandts. 1805 vererbte ihm der Kölner Sammler Baron von Hüpsch seine hochbedeutende Kunst- und Naturaliensammlung, darunter Elfenbeinarbeiten und Gemälde des Mittelalters sowie wertvolle Mineralien und Fossilien. 52 Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts wurden im Jahr 1808 von dem Baseler Kaufmann Nikolaus Reber angekauft, etwas später kam die 81 Gemälde umfassende Sammlung des Grafen Truchseß von Waldburg hinzu sowie 1450 Handzeichnungen aller bedeutenden europäischen Schulen aus der Sammlung E. F. J. von Dalberg.
Im Jahr 1820 übergab Ludewig I. seine Kunst- und Naturaliensammlung in Form einer Stiftung in das Eigentum des Staates. Damit machte er die Sammlung, die seit dem 17. Jahrhundert von den Landgrafen Hessen-Darmstadts kontinuierlich aufgebaut worden war, der Öffentlichkeit zugänglich. … 1817 wurde die Sammlung vom alten Residenzschloss in das neue Schloss verlegt. …
Und noch heute sind sie da – der „Christus in Emmaus“ von Carl von Savoy, der Dinotherium-Kinnbacken und auch die protzigen Kirchenschätze.
C. v. Savoy, Christis in Emmaus (Ausschnitt)
Die Sammlung von Kirchenschätzen
Die Funde aus den rheinhessischen „Dinotheriumssanden“
Die Sammlung historischer Korkmodelle antiker Stätten
Die wunderschön gestaltete naturkundliche Sammlung ist eine Darstellung der Evolution, wie sie sich Ludwig Büchner in kühnsten Träumen nicht erhofft hätte,
Skelettparade
Heckels „Stammbaum des Menschen“
Ein kleiner Teil der Funde aus dem Messeler Urschiefer
Luise Büchner wäre über den Anschauuungsunterricht der bildenden Kunst von Rembrandt bis Beuys begeistert gewesen
Andy Warhol: Joseph Beuys
Kleiner Einblick in die Mittelalter-Sammlung
Die Holländer
und Alexander kann ich mir sehr gut in van de Veldes Büro vorstellen:
H. van de Velde: Büro für die Chefredaktion der „Revue Blanche”
Kurz: Für künftige Darmstadt-Besucher, seien sie auf den Spuren der Geschwister Büchner oder „einfach nur so da”, ist jedenfalls der Besuch des Landesmuseums in Zukunft Pflicht!
Darmstadt bereitet sich auf die Erinnerung an die Zerstörung der Stadt am 11. September 1944 vor. Natürlich haben die Kriege auch Einfluss auf das Leben der Büchners und ihrer Nachfahren genommen; der entsetzliche Bombenangriff auf die Stadt kostete das Leben der Familie Georg Büchners (* 1862), Ludwig Büchners ältestem Sohn, mit dessen Ehefrau Marie geb. Schenk (*1873) und ihrer Tochter Viktoria (*1893).
Grabstein von Ludwig Büchers Sohn und dessen Familie auf dem Darmstädter Alten Friedhof
Ludwig Büchners erstes Kind, die Tochter Mathilde (1860 – 1939), war mit Gustav Buss (1858 – 1934) verheiratet. Ihre Tochter Sophie war seit 1921 mit Karl Soeder verheiratet und hatte drei Kinder, Susanne (*1922), Friedrich (*1925) und Peter (*1929). Diese Familie lebte im Büchnerschen Haus in der Hoetgesstraße, in unmittelbarer Nähe zu St. Ludwig, der unübersehbaren katholischen Kirche mit ihrer runden Kuppel. Am Tag des Angriffs war Friedrich als Soldat im Krieg. Fast wunderbar ist, dass – mitten in Darmstadt – die ganze Familie überlebte. Peter Soeder hat mir erzählt, dass die Rettung der Familie ein Feuerlöschteich war, der vor der Kirche angelegt war, in den sie sich retten konnten und dort den schrecklichen Feuersturm überlebten.
Die große Schwester war in dem Moment, als die Familie das brennende Haus verließ, an der Schwelle stehengeblieben und hatte wie in einer Eingebung versucht, wenigstens irgendeine Erinnerung zu retten. Sie entschied sich für das Bild Georg Büchners, das im Wohnzimmer an der Wand hing. (Zur Geschichte dieses Bildes habe ich hier bereits mehrfach geschrieben, zuletzt hier.) Sie lief zurück ins brennende Haus, griff nach dem gerahmten Bild und stürzte damit zurück auf die Straße. Der entsetzliche Feuersturm, von dem alle Überlebenden mit Grausen berichten, war so stark, dass das Bilderglas zerbrach und das Papier Feuer fing: sie sah das verkohlende Blatt vor ihren Augen verschwinden.
Fotografie des verlorenen Bildes. Angefertigt von Ernst Büchner anlässlich Georg Büchners 100. Geburtstag 1913
In den letzten Monaten haben wir häufig spekuliert und beklagt, wie immens der Verlust an Material zur Büchnergeschichte ist, den diese Nacht gekostet hat – bei den Büchners muss es eine Unmenge an Korrespondenz der Geschwister gegeben haben, vielleicht auch noch Material über Georg Büchner, sicher den Briefwechsel mit seiner Verlobten. Immerhin sind die überlieferten Manuskripte Georg Büchners über die Bergemann-Werkausgabe im Insel-Verlag und Anton Kippenbergs Überlassung ans Weimarer Archiv erhalten geblieben.
Es steht natürlich außer Frage, dass angesichts der tausenden von Toten die Klage um verlorenes Papier lächerlich wirkt und unverhältnismäßig scheint; dass Kriege als Kollateralschaden immer auch Erinnerungen zerstören, gehört zu ihrer entsetzlichen Routine.
Im Darmstädter Kunstarchiv im Literaturhaus eröffnet am 11. September eine Ausstellung:
„Das Feuer fraß die halbe Stadt …“
Bilder zur Darmstädter Brandnacht
Karl Deppert, Willi Hofferbert, Annelise Reichmann, Marcel Richter, Lothar Toller, Ernst Vogel u.a. und Fotos von der zerstörten Stadt
Do., 11. – Fr., 26. SeptemberLiteraturhaus, Kunst Archiv im 1. OG
Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr, 10-13 Uhr, Do 10-18 Uhr
Ausstellungseröffnung: 11. September 2014, 17 Uhr
Zur Eröffnung spricht der Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt, Jochen Partsch
Stadtzerstörung vor 70 Jahren
Das Datum des 11. Septembers 1944 markiert den schlimmsten und nachhaltigsten Einschnitt in die Geschichte unserer Stadt! Am Ende des 2. Weltkrieges wurde Darmstadt zu fast 80 % zerstört, die Altstadt völlig ausradiert und 12.000 Menschen verloren bei dem vernichtenden Fliegerangriff ihr Leben. Aus eigenem Erleben der Brandnacht und inmitten der entstandenen Darmstädter Trümmerlandschaft malten Künstler ihre traumatischen Erlebnisse und bannten den Schrecken aufs Papier oder die Leinwand.
Im Zentrum der Ausstellung stehen, neben den Fotos der zerstörten Stadt, der siebenteilige Temperazyklus von Karl Deppert, das große Triptychon „11./12. September 1944“ von Ernst Vogel und die Darmstädter Ruinen-Landschaften von Annelise Reichmann.
Die Ausstellung ist eingebunden in eine Vielzahl von Veranstaltungen zum Gedenken an die Brandnacht vor 70 Jahren.
Das Darmstädter Literaturhaus, in dem die Luise Büchner-Bibliothek untergebracht ist, in der die Luise Büchner-Gesellschaft arbeiten darf, lädt für Freitag, den 5. September,zum großen Sommer(abschluss…)fest nach Darmstadt ein.
Ausnahmsweise werden hier daher auch „Nicht-Büchnersche” Veranstaltungen beworben, allerdings nicht ohne den Hinweis auf die Lesung von Jutta Schütz, Mitglied im Vorstand der Gesellschaft und Herausgeberin der Zeitschrift Mathilde, die um 16:30 Uhr die Frauenrechtlerin Luise Büchner als Lyrikerin mit einer Lesung aus dem Gedichtband „Frauenherz“ vorstellt.
Hier also der offizielle Einladungstext (und hier der link zum Veranstaltungsprogramm des Literaturhauses ).
Wir feiern das Ende des Sommers und läuten sogleich das Herbstprogramm des Literaturhauses ein.
Ab 16 Uhr stellen sich alle im Haus ansässigen Institutionen vor und bieten spannende Einblicke in ihre Arbeit. Lassen sie sich durch das Kunst Archiv führen, trinken sie bei italienischer Musik Prosecco beim Verein Società Dante Alighieri, lassen sie sich von der Deutsch-Indischen Gesellschaft bei Tee und Gebäck in die indische Märchenwelt versetzen oder hören sie Chopin und genießen sie die Ausstellung im Auditorium. Schauen sie sich Filme zur Darmstädter Kunst und italienischem Leben an und bedienen sie sich an diversen Büchertischen. Auch ein historisch-literarisches Darmstadt-Quiz mit dem Riwwelmaddhes und ein Mal- und Zeichenkurs für Kinder werden an diesem Tag in unserem großen vielschichtigen Haus angeboten. Aber auch ernsthafte Themen zum Ersten Weltkrieg und andere werden erörtert.
Durch den Tag führt Alex Dreppec, der auf über 200 Veröffentlichungen im deutschen und englischen Sprachraum zurückblicken kann. Er moderiert Science Slams und ist Mitbegründer des mittlerweile weit über Darmstädter Grenzen hinaus bekannten Krone-Slams.
Nach 20jähriger Zurückgezogenheit kehrt der legendäre Veranstalter und DJ der Darmstädter „Open-Your-Mind“- Partyreihe Matthew D zurück ins Rampenlicht und ins Literaturhaus. Freuen Sie sich auf einen Tanzabend im Auditorium.
In unserem großen 4stöckigen Haus stehen mehrere Büchertische und Bibliotheken zum Stöbern bereit. Vor dem Haus warten Liegestühle und ein Angebot an Hamburgern, Coleslaw, Muffins, Bratwürstchen und Getränken.
Veranstaltungen im Auditorium, Schauraum und Eingangsbereich:
Ab 16 Uhr Büchertauschbörse im Eingangsbereich und Ausstellung der „Darmstädter Tage der Fotografie“. Mit Fotografien von Isabel Kiesewetter zum Thema Konversion im Schauraum
16 – 17 Uhr Società Dante Alighieri – Malen und Zeichnen für Kinder ab 6 Jahren
16 – 17 Uhr Deutsch-Indische-Gesellschaft – Lesung indischer Märchen bei Tee und Gebäck
17-17:45 Uhr Akademie 55plus – Historisch-literarisches Darmstadt-Quiz mit dem Riwwelmaddhes
18 Uhr Offizielle Begrüßung durch Stadtverordnetenvorsteherin Doris Fröhlich
18:15-18:45 Uhr Chopin-Gesellschaft – Der Weg in die Zukunft von Hartmut Stolzmann mit musikalischen Beiträgen von Sabine Simon am Piano
19 – 19:45 Uhr Elisabeth-Langgässer-Gesellschaft – Karl-Heinz Müller liest zum Thema „Darmstadt zieht in den Krieg“ mit Texten zum Ersten Weltkrieg aus Darmstadt
20 Uhr Alex Dreppec spricht über den Poetry- sowie den Science Slam und stellt seinen neuen Gedichtband vor
Ab 21 Uhr TANZ im Auditorium mit DJ Matthew D. – Das Auditorium im Literaturhaus wird zur Tanzfläche bis in die späten Stunden…
Veranstaltungen in den Vereinsräumen:
16 – 18 Uhr Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in der Alexander-Haas-Bibliothek,
2. Stock Chassidische Geschichten aus dem osteuropäischen Judentum, zu Gehör gebracht
von Siegmund Krieger. Klezmermusik vorgetragen von Schülern von Irith Gabriely. 3D
Computer Rekonstruktion der Darmstädter Synagoge in der Bleichstraße. Erinnerungen von
Asher Wasserteil Ehemalige Darmstädter Juden berichten über ihre Erlebnisse in der
NS-Zeit; DVD von Gropper-Film.
16:00 Uhr Goethe Gesellschaft, 3. Stock, Raum der Textwerkstatt – Sitzung des Faust-Lesekreises
16 – 18 Uhr Luise Büchner Bibliothek, 2. Stock – Offene Bibliothek – Willkommen zum Stöbern nach Literatur von und über Frauen
16:30 Uhr Jutta Schütz stellt die Frauenrechtlerin Luise Büchner als Lyrikerin vor mit einer Lesung aus dem Gedichtband „Frauenherz“
Am 31. August 1899 heiratete in Caen in der Normandie die 24-jährige Martha Bahlsen Alexander Büchner. Büchner war 72 Jahre alt und sich der Besonderheit des Altersunterschiedes durchaus bewusst. Die beiden führten, nach allem war wir wissen, eine glückliche Ehe und verlebten ein paar schöne Jahre zusammen. Sie reisten häufig, unter anderem für längere Zeit nach Nordafrika, und zogen schließlich in Marthas Geburtsstadt, nach Hannover, wo Alexander am 3. Juli 1904 starb. Das Grab, in dem auch die viele Jahre später, am 26. 2. 1949, in Goslar gestorbene Martha lag, gibt es leider nicht mehr. Alexanders jüngerem Freund Elissen, dem dieser mit der Nachricht von der Hochzeit im Spaß angeboten hatte, er könne Martha ja nach seinem Tode heiraten, hat Martha deutlich zu verstehen gegeben, dass sie daran kein Interesse hatte. Sie hat nicht wieder geheiratet. Offenbar pflegten die Nachfahren in Darmstadt und Pfungstadt den Kontakt mit Martha, aus Pfungstadt ist überliefert, dass sie nie ohne Kisten mit Plätzchen anreiste.
In seinen hier schon öfter zitierten Memoiren hat Alexander Büchner mit dem Bericht über seine zweite Ehe ein besonders schönes Beispiel für seine große Fähigkeit zur feuilletonistischen Formulierung abgeliefert. Neben der Schilderung seiner Beziehung zu Martha findet sich hier übrigens auch wieder einer der häufigen Büchnertexte, in dem Geschwister liebevoll beschrieben werden.
„ … ich bin zum Hädoniker geworden, das heißt ich gewann die Überzeugung, das diesseitige Leben sei sich Selbstzweck und bestehe aus einer ungleichen Mischung von Annehmlichkeiten und deren Gegenteil. Diese Mischung hängt von den persönlichen Anlagen und Verhältnissen eines jeden ab, und zwar erhält mit zunehmendem Alter das Unangenehme das Übergewicht. Von dem Augenblicke an, wo Letzteres eintritt, ist der Mensch bankerott und tut am besten die Bude selbst zuzumachen. So war die Lebensanschauungen im klassischen Altertum. Brutus stürzte sich in sein Schwert, um seinen Feinden nicht in die Hände zu fallen. Unsere grimmen germanischen Vorfahren, sobald sie fühlten, dass sie zu nichts mehr nütze seien, schnitten sich als bouches inutiles tödliche Runen in die Brust. In der christlichen Welt dagegen pflegt man diese Art von Bankerott mit dem hässlichen Namen des Selbstmordes zu bezeichnen und als schwere Sünde zu verbieten. Dennoch fängt dieselbe mehr und mehr an wieder in die Mode zu kommen und nicht als etwas ästhetisch Widerwärtiges angesehen zu werden. Unsere seitherige Bekanntschaft mit den Religionen des Orients und namentlich dem Buddhismus hat in gleicher Weise gewirkt, und so gelangte auch ich mit zunehmendem Alter zu der Überzeugung von dem schließlichen Sieg des Bösen über das Gute, des Ahriman über Ormuzd, desTyphon über Osiris, der Schwäche über die Kraft, des Hässlichen über das Schöne, des Doit über das Avoir, welcher mit dem Alter hereinbricht. Wenn ich mich umsehe, gewahre ich nur die Lücken, welche das Todesgeschick in die Reihen der Mitlebenden gerissen hat.
So sind zunächst meine Geschwister dahingegangenen, vor mir, dem jetzt 72-jährigen Nesthäkchen, erst der apolloartige Denker und Dichter Georg, dessen ich mich nur noch aus dem Dunkel meiner frühesten Kindheit erinnere; dann die intuitive Luise, mit dem idealschönen Gesicht, aber ihrem durch einen Unfall verkrümmten Körper; ferner der fidele, freizügige Wilhelm, der Krösus der Familie als Erfinder des künstlichen Ultramarins, der eines Tages unserer Mutter ein Stück blauen gebrannten Ton auf ihren Arbeitstisch legte mit den Worten: „Hier habe ich eine Million!“ Endlich die edle aufopfernde Mathilde, mit dem Felsencharakter, welche, wenn die Mutter bettlägerig war, an uns jüngeren und zumal an mir Mutterstelle vertrat, und schließlich der „Kraft und Stoff,“ (Ludwig – pb) fast mein Altersgenoss mit dem weichen Gemüt und dem spekulativen Kopf, der ideologische Materialist, in welchem christliche Menschenliebe und sprödeste Hinnahme der nacktesten Tatsachen so wunderlich zusammenflossen.
Nun komme ich selbst an die Reihe, und die schimmernde Salzflut hebt mir ihre durchsichtigen Wellen entgegen, indem sie zu sagen scheint „was tust du noch da oben auf dem Sand? Wie deine Geschwister, so sind auch deine teuersten Freunde verschwunden, der edle Franz Wirth, der redegewandte Rudolf Fendt, der spöttische Wilhelm Franck, der tiefsinnige Ästhetiker Leon Dumont, der fuchsrote August Becker vom jüngsten Tag, der unglückselige Karl Ohly, der wackere Dr. Wilhelm Zimmermann. Du hast lange genug gelebt, geliebt und genossen und fängst an, nur noch zu leiden. Deine erste Frau ist seit 20 Jahren tot, Dein Sohn mit 35 Jahren versorgt, Du selbst hast die Altersschmerzen von Kopf bis zu den Füßen bei dir im Hause; schlag´ den Schmerz ein Schnippchen und komm!“
Unter solchen Gedanken stand ich eines Morgens elf Uhr in der Sonne, Rue Bicoquet zu Caen vor meinem Hause und sah zu, wie der übliche Kohlenvorrat abgeladen wurde; und wie ich mich herumdrehe, steht vor mir, vom Sonnengold umflossen, ein schlankes Mädchen, im einfachen hellen Kattunkleidchen, ein Strohhütchen auf den goldbraunen Wellen des Haares über einer glatten Denkerstirn, Nixenaugen und einer geraden Nase über einem etwas breiten schwellenden Mund und fragt mich, in etwas mangelhaftem Französisch, ob ich der Professor so und so wäre. Es war keine idealschöne aber über alle Begriffe anmutige und anziehende Erscheinung.
„Leicht und frei wie aus dem Nichts gesprungen“, kräftig und zierlich zugleich, mit einem Wort, ein Mädchen zum Küssen – für jüngere Leute als mich.
„Der Professor, den Sie suchen, bin ich – leider,“ antwortete ich auf Deutsch; „womit kann ich Ihnen dienen?“
„Ich möchte gern gut Französisch lernen, und wie ich dies von einigen deutschen Damen höhre, kann man das an ihrer Fakultät.“
„Je nachdem man sich danach anstellt,“ versetzte ich, „und sie scheinen mir richtig dazu angelegt.“ Ein Wort gab das andere, und ich erklärte der Dame, dass ich schon mehreren anderen deutschen und englischen Studentinnen als onkelhafte Professor gedient und denselben zu vollgiltigen Diplomen verholfen habe.
Ich gewann das herzige Kind schnell sehr lieb, und da ich keck genug war zu denken, dass sie diese Gefühle im stande sei zu teilen, so heirateten wir uns bald darauf, da ich gerade in Ruhestand versetzt worden war. Wir zogen ans Meer, und ich kann immer noch ins Wasser springen, welches jeden Tag, bald morgens, bald abends mit der Flut seine Aufwartung macht und, bald sanft lispelnd, bald mit Donnerstimme fragt: „Ist´s immer noch nicht gefällig?“ Ich aber stehe mit Martha ruhig auf dem Balkon unserer Villa Bijou, drehe meine Zigarette und meinen Schnurrbart und versetzte: „Abwarten! Nirwana!“
Alexander Büchner: Das tolle Jahr. von einem, der nicht mehr toll ist. Giessen. Emil Roth. 1900. SS 373 – 375
Ich freue mich außerordentlich, dass dieser lange vernachlässigten Fährte nachgegangen wird.
Freud veröffentlichte 1882: „Ueber den Bau der Nervenfasern und Nervenzellen beim Flusskrebs” (On the structure of the nerve fibers and nerve cells in crayfish), einen Text, zu dem mir im März 2011 die Sigmund Freud Privatstiftung noch mitteilte „Aufgrund der Recherche zu Ihrer Anfrage muss ich Ihnen leider mitteilen, dass wir die Promotion bzw. eine Kopie davon leider nicht besitzen. Auch in den Mitteilungen der Akademie der Wissenschaften werden Freuds Arbeiten nicht als Promotion geführt und die Biographen selbst geben auch keinen Hinweis darauf.”
Ich habe den Text schließlich selbst gefunden und sowohl dem Archiv wie dem Freud-Museum zur Verfügung gestellt. S. Freud promovierte mit der Arbeit
Über den Bau der Nervenfasern und Nervenzellen beim Flusskrebs.Vorgelegt in der Sitzung am 15. Dezember 1881. Veröffentlicht in „Sitzungsberichte der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften.” LXXXV Band, III. Abtheilung, Jahrgang 1882, Heft I bis V. Wien 1882. S. 9 – 46. Mit einer Tafel
Im Abstract der neuen Untersuchung heißt es:
Review of the biographies and medical-scientific, as well as philosophical publications, of Georg Büchner and Sigmund Freud reveal striking parallels between the two researchers in addition to common insights that have generally been ignored or only marginally addressed in the past. Both should be appreciated and remembered as forerunners of today’s neuroscientific community.
Der Aufsatz endet:
Freud was not the first to make the unconscious mind the object of his reflections, but he was the first to develop a structured theory about it. Central for him was the insight that there lay a certain meaningfulness in the symptoms and suffering of his patients. He noticed that the revelation of the contents of the unconscious through free association and engagement with their dreams led to alleviation of symptoms. He therefore saw a central role for psychoanalysis in the discovery of autobiographical contents. To understand dream processes and the formation of neuroses, he designed a model of the “normal” functioning of the psychic apparatus and realized that inner psychological processes follow different rules from what the external reality would suggest. With this Büchner’s idea of the fateful determinism of man experienced a breath of relief from his ”conditio humana.”.