Vor einigen Wochen erhielt ich ein Konvolut von Tagebüchern eines Büchner-Verwandten, das eine große Menge von Informationen über die Zeit zwischen 1808 und 1841 liefert.
Carl von Bechtold war der Großcousin von Caroline Büchner (geb. Reuß), Georg Büchners Mutter, aber annähernd gleich alt; beide sind 1791 geboren.
Als hessischer Soldat ist Bechtold zwischen 1808 und 1815 auf vielen europäischen Schlachtfeldern gewesen, seine Tagebücher, ediert von einer Nachfahrin, sind ein wahrer Schatz und bedürfen der sorgfältigen, kommentierten Edition.
Es finden sich dort auch zahlreiche private Notizen zur Familie, und dort erfahren wir staunend, dass es offenbar den Plan gab, ihn mit Caroline Reuß zu verheiraten. Bekanntlich saß die ja bei ihren Eltern in Hofheim, der Verwaltersfamilie des „Irrenhauses“, und hatte sicher keine große Auswahl an Bewerbern. Bechtold macht allerdings sehr deutlich, wie ungern er sich gefügt hätte, und als schließlich Ernst Büchner auf den Plan tritt, zeigt er sich hoch erfreut.
Eine Bemerkung macht allerdings stutzig: im Januar 1813 kehrt er mit Prinz Emil von Hessen aus dem Feldzug nach Moskau vorübergehend nach Darmstadt zurück (s. dazu Künzel, Geschichte von Hesssen …, Friedberg 1856, darin SS 313/14: v. Hanesse, Die Feldzüge des Prinzen Emil von Hessen). In diesen Tagen kommt es zu einem möglicherweise folgenreichen Treffen mit Caroline Reuß. Bechtold stellt dem Fürsten seine Verwandte vor, beide stehen „sprachlos und wie verzaubert“, und Bechtold zieht sich „dem unübersehbaren Bedürfnisse der beiden folgend“ diskret zurück (zit. nach den unveröffentlichen „Journalen“, hier Bd. 2., Eintrag vom 12. Januar 1813).
Das Treffen scheint Folgen gehabt zu haben – die jung verheiratete Frau (im Oktober 1812 hatte sie Ernst Büchner geheiratet und Bechtold damit eine schwere Last von den Schultern genommen…) ist schwanger. Bechtold ergeht sich in kryptischen Andeutungen, und hier wird die Forschung ansetzen müssen: „Caroline ist schwanger – wie es heißt, nicht seit Oktober, sondern erst seit Januar“ (a.a.O., 7.Mai 1813) und später „Carolines Kind wird ja glücklicherweise ehelich geboren“ (a.a.O., 18. August 1813).
Sollte am Ende ausgerechnet der Schlächter von Södel, unter dessen Befehl die oberhessischen Bauern niedergemacht wurden, eine ganz andere Verbindung zu den Büchners haben als bisher bekannt? War es sogar sein Einfluss, mit dem er (zu dieser Zeit als Präsident der ersten Kammer des Landtags) 1834 die Verhaftung Georg Büchners in Gießen persönlich verhinderte und ihn im März 1835 nach Frankreich entkommen ließ? Gab es einen privaten Grund dafür, dass er bei seinem Aufenthalt in Straßburg 1835 auf die Auslieferung des Landboten-Revolutionärs verzichtete (Büchner hat das gefürchtet: er schreibt am 17.August: „Die Gegenwart des Prinzen Emil, der eben hier ist, könnte vielleicht nachtheilige Folgen für uns haben, im Fall er von dem Präfecten unsere Ausweisung begehrte; doch halten wir uns für zu unbedeutend, als daß seine Hoheit sich mit uns beschäftigen sollte.“ zitn n. Hauschild, Büchner, 1993, S. 480, auch hier) )?
In diesem Blog ist bisher die These von der Auffindung eines neuen Büchner-Bildes mit großer Distanz kommentiert worden; zahlreiche Indizien schienen dagegen zu sprechen. Nun allerdings findet sich eine verblüffende Übereinstimmung in eine Richtung, die bisher gänzlich unerforscht war – der junge Prinz Emil ist ein regelrechtes Spiegelbild des „Korsars“, und wenn er wirklich der leibliche Vater wäre, müsste auch das neu aufgetauchte Bild neu bewertet werden.
Als vor einigen Jahren in Zürich die Linde über Büchners Grab fiel und die Anlage neu gestaltet wurde, hat Reinhold Pabst angeregt, das Grab zu öffnen und die sterblichen Überreste zu analysieren – das wurde unisono abgelehnt, der Züricher Magistrat hat die Totenruhe für vorrangig vor der Forschung erklärt. Mit den neuen Erkenntnissen mag es auch einen neuen Vorstoß geben – und wenn sich der fünffache Großneffe Emils, Rainer von Hessen, bereit erklärt, könnte eine DNA-Analyse Klarheit verschaffen, ob in Zukunft von den „Geschwistern Büchner” nur noch in Anführungszeichen gesprochen werden kann.
Auch die oft beschriebene kühle Distanz von Ernst Büchner zu seinem Erstgeborenen, die am Beispiel seines Briefes an Georg am 18. Dezember 1836 oft beschrieben wird, erhält eine neue Dimension: wusste er, wer der Vater des Züricher Dozenten war? Dort schreibt er ihm: „…sollst du auch so gleich wieder den gütigen und besorgten Vater um das Glück seiner Kinder in mir erkennen.“ – meint er: auch wenn ich es nicht bin?
von Peter Brunner
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