In der zweiten Auflage von Ludwig Büchners „Fremdes und Eigenes aus dem geistigen Leben der Gegenwart” (übrigens ein Titel, der Ludwig Büchners Leben und Arbeit prägnant auf den Punkt bringt…), findet sich als Anhang ein Text von knapp zwanzig Seiten unter der Überschrift „Ein Besuch bei Darwin”.

 

Ich stelle ihn hier als pdf zur Verfügung. 

Charles Darwin war für Ludwig Büchner „der Wiederbeleber der Entwicklungstheorie”. Mit einigem Selbstbewusstsein, an dem es ihm überhaupt nicht mangelte, stellt er auch sich selbst in die Reihe derjenigen, welche „die Ursachen der Umwandlung und Verwandlung der Lebewelt” erforscht und beschrieben haben.

1881 nutzte Büchner seine Teilnahme am Freidenkerkongreß in London dazu, dem großen Denker seine Aufwartung zu machen. Er bediente sich dazu einer Person als Vermittler und Übersetzer, die mit „umstritten” noch sehr freundlich beschrieben wird – Edward Aveling, dem Schwiegersohn von Karl Marx, der dessen Tochter Eleanor in Verzweiflung und Selbstmord trieb.

In der wunderbar erschlossenen Korrespondenz Charles Darwins findet sich ein Briefwechsel Büchners von 1862, in dem Darwin für die Zusendung seines Buches „Aus Natur und Wissenschaft“ dankt.

1864 veröffentlichte Büchner seine Übersetzung des bahnbrechenden Werks „Das Alter des Menschengeschlechts auf der Erde und der Ursprung der Arten durch Abänderung, nebst einer Beschreibung der Eis-Zeit in Europa und Amerika” von Charles Lyell. Das Buch des engen Freundes von Charles Darwin hatte in England schon beim Erscheinen Furore gemacht.

In zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen hat Ludwig Büchner immer wieder auf die weltbewegenden Erkenntnisse Darwins hingewiesen; heute wird ihm gerne vorgeworfen, er habe dabei zu Unrecht Darwins Theorien auch auf die Entwicklung der Menschheit bezogen und so einem unwissenschaftlichen „Sozialdarwinismus” Vorschub geleistet.

Die deutsche Autorin Ilona Jerger schrieb mir, dass sie Büchners Aufsatz nicht kannte, als sie ihren Roman über ein fiktives Treffen Darwins mit Karl Marx geschrieben hat, und Büchner, dessentwegen ich das Buch gelesen habe, kommt auch tatsächlich nur auf wenigen Seiten und eher blass in der Geschichte vor.

Wer aber auf eine angemessene Würdigung des Darmstädter Professors verzichten kann, kann „Und Marx stand still in Darwins Garten” als schönes Beispiel „kontrafaktischer Geschichtsschreibung” lesen. Davon hatten wir es hier ja schon einmal am Beispiel der politischen Optionen für ein Deutschland zwischen Preussen und Österreich. Es ist wirklich spannend, sich vorzustellen, was sich die beiden großen Denker zu sagen gehabt hätten, und dass sie eine ganze Weile räumlich nahe beieinander lebten, macht das Spiel noch realistischer.

Das Speisezimmer in Down House – eingedeckt mit Wedgewood, of course

Ilona Jerger gelingt es gut, die Atmosphäre in Down House lebendig werden zu lassen, sicher hat sie bei Ihren Vorarbeiten das schöne Museum in Darwins Haus besucht. (Über meinen Besuch dort habe ich hier 2009 berichtet.) Es schadet auch nicht, dass sie selbst deutlich Partei bezieht – der nachdenkliche und zögernde Darwin ist ihr als Person und mit seinem Forschungsgegenstand deutlich näher als der polternde Marx, und dass Darwin Marx‘ Kapital auf deutsch nur auf den ersten Seiten aufgeschnitten, also fast ungelesen, hinterlassen hat, kann sie offenbar gut verstehen. Tatsächlich fiel es Darwin schwer, deutsche Texte zu lesen, er erwähnt das ja auch in der oben zitierten Antwort an Ludwig Büchner. *1  Mit Vergnügen hat sie dagegen offenbar Darwins Texte gelesen, und ganz zu Recht beschreibt sie geradezu liebevoll seinen berühmten Beitrag über Regenwürmer (hier digitalisiert auf deutsch).

 

288 Seiten ISBN-13 9783550081897 Ullstein 2017. 20 €

Wer also Lust hat, ein gut geschriebenes Buch mit einer gut erfundenen Story aus dem England des 19. Jahrhunderts zu lesen, wird mit „Und Marx stand still in Darwins Garten” bestens bedient. Für mich sind zahlreiche biografische und „pseudobiografische” Romane der Anlass gewesen, mehr über Leben und Werk der handelnden Personen erfahren zu wollen, und das kann ja neben reinem Lesevergnügen auch nicht schaden.

 

 

*1  Offensichtlich kam niemand auf die Idee, Charles Darwin (und wohl auch der Autorin nicht …) vorzuschlagen, als Einstieg in Marx‘ Denken und Schreiben das Kapital – in seinem Fall auf englisch – mittendrin aufzuschlagen und mit dem lesenswerten 24. Kapitel über die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation”  (für die geneigten Leser*innen hier auf deutsch …) zu beginnen. Wie Marx dort den „historischen Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel”  als „die Vorgeschichte des Kapitals” schildert, ist jedenfalls die vielleicht beste Einführung in sein Denken und eine ausgezeichnete Heranführung an seine Art des Argumentierens.

von Peter Brunner

 

Peter Brunner

Peter Brunner