Am 27. August 1824 wird in Leipzig eine öffentliche Hinrichtung veranstaltet. Der Perückenmacher Johann Christian Woyzeck hatte am 21. Juni 1821 Johanna Christiane Woos ermordet.
Im Büchner-Jahrbuch 4 (1984) zitieren N. Dorsch und J.-C. Hauschild den Zeitgenossen Ernst Anschütz (dem wir außerdem „Oh Tannenbaum” verdanken…):
„Freitag, den 27. August (1824). Heiter und sehr warm. Hinrichtung des Delinquenten Woyzeck. Das Schafott war mitten auf dem Markt gebaut. 54 Cürassiere von Borna hielten Ordnung um das Schafott; das Halsgericht wurde auf dem Rathause gehalten. Kurz vor halb 11 Uhr war der Stab gebrochen, dann kam gleich der Delinquent aus dem Rathause, Goldhorn und Hänsel gingen zur Seite und die Rathsdiener in Harnisch, Sturmhaube und Piken voran, rechts und links; die Geistlichen blieben unten am Schafott; der Delinquent ging mit viel Ruhe allein auf das Schafott, kniete nieder und betete laut mit viel Umstand, band sich das Halstuch selbst ab, setzte sich auf den Stuhl und rückte ihn zurecht, und schnell mit großer Geschicklichkeit hieb ihm der Scharfrichter den Kopf ab, so daß er noch auf dem breiten Schwerdte saß, bis der Scharfrichter das Schwerdt wendete und er herabfiel. Das Blut strömte nicht hoch empor; sogleich öffnete sich eine Fallthür, wo der Körper, der noch ohne eine Bewegung gemacht zu haben auf dem Stuhl saß, hinabgestürzt wurde; sogleich war er unten in einen Sarg gelegt und mit Wache auf die Anatomie getragen. Alsbald wurde auch schnell das Schafott abgebrochen, und als dies geschehen war, ritten die Cürassiere fort. Die Gewölbe, die vorher alle geschlossen waren, wurden geöffnet und alles ging an seine Arbeit. Daß Vormittags keine Schule war, versteht sich.“
1807 war Woyzeck als Soldat napoleonisch-mecklenburgischer Truppen „vor Stralsund” – nebenan stand ein niederländisches Regiment, in dem der Odenwälder Arztsohn Ernst Büchner als „chirurgischer Gehilfe” diente. Ernst Büchners Sohn Georg sollte Woyzeck unsterblich machen.
Als sich Georg Büchner 1836 daran macht, aus mindestens zwei Kriminalfällen, die er aus der Bibliothek des Vaters kennt, ein Drama zu verfassen, entstehen die Fragmente eines Dramas, das bis heute Furore auf der Bühne machen kann. In seiner Einleitung zum Text schreibt Tilman Fischer (zit. nach dem Buechnerportal): „Im Woyzeck werden erstmals in der internationalen Theatergeschichte Personen der Unterschicht im ernsthaften Drama dargestellt.”
Zum Jahrestag der Hinrichtung präsentiert die Leipziger Schaubühne Lindenfels die Inszenierung dieser Hinrichtung am historischen Ort.
Hier der Pressetext:
„Spektakuläre Stadtraum-Aktion: Schaubühne Lindenfels errichtet temporäres Monument auf Leipziger Marktplatz
Unter dem Titel „Woyzeck – letzte Szene, ein öffentlicher Platz“ startet die Schaubühne Lindenfels am 27. August ihren „Büchner-Zyklus“, ein internationales Kooperationsprojekt zum Gesamtwerk Georg Büchners, mit der Installation eines temporären Monuments auf dem Leipziger Marktplatz. Der 6x7x4 Meter große Holzkubus dient bis zum 10. Oktober – dem Internationalen Tag gegen die Todesstrafe – als Ausstellungsort und wird mit einer Rekonstruktion der letzten öffentlichen Leipziger Hinrichtung eröffnet.
Rekonstruktion einer Hinrichtung: So, 27.08. | 18 Uhr | Marktplatz Leipzig | Eintritt frei
Ausstellung im Kubus: 29.08. – 10.10. | täglich 10 – 18 Uhr | Marktplatz Leipzig | Eintritt frei
Öffentliche Führungen: 30.08. und 05.09. | 16 Uhr | Eintritt frei
Am 27. August 1824 wurde Johann Christian Woyzeck auf dem Leipziger Marktplatz vor 5000 Zuschauern enthauptet. Der Fall diente Georg Büchner als Vorlage für sein weltberühmt gewordenes Drama „Woyzeck“. Am Beispiel dieser letzten öffentlichen Hinrichtung in Leipzig thematisiert die Schaubühne Lindenfels 193 Jahre später an gleicher Stelle Kontinuitäten und Brüche in der Geschichte einer Stadtgesellschaft. Ein Holzkubus, in Größe und Gestalt dem Schafott Woyzecks entsprechend, wird dazu auf dem Leipziger Marktplatz errichtet.
Der Kubus wird am 27. August eröffnet mit einer Rekonstruktion dieses von der Justiz legitimierten Mordes, der 1824 als erzieherisches Spektakel und zur Abschreckung mitten in der „aufgeklärten“ Stadtgesellschaft Leipzigs vor großem Publikum stattfand. In der Rekonstruktion mischt sich eine fiktionale Live-Übertragung der damaligen Ereignisse mit szenischen Tonfragmenten aus Büchners Werk. Für die Sound-Regie zeichnet David Fischbach verantwortlich, Co-Leiter des BUCHFUNK Verlags, der unter anderem 2013 mit dem elektroakustischen Hörbuch „Der heilige Pillendreher“ den Deutschen Hörbuchpreis gewann.
Im Inneren des Kubus ist bis zum 10. Oktober eine Ausstellung zu sehen, die in Zusammenarbeit mit dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig entsteht und das historische Geschehen Büchners Dramenfragment gegenüberstellt. Ein weiterer Bestandteil der Ausstellung wird von Amnesty International konzipiert und untersucht den Fall Woyzeck hinsichtlich völkerrechtlicher und juristischer Fragen in Hinblick auf die Todesstrafe. Am 10. Oktober jeden Jahres wird der „Internationale Tag gegen die Todesstrafe“ begangen. Im Rahmen des Projektes soll auf diesen Aktionstag hingewiesen werden.
Im Rahmen des „Büchner-Zyklus“ wird der Kubus samt Ausstellung auch in Strasbourg und Zürich zu sehen sein. Im April 2018 bringt das Ensemble der Schaubühne Lindenfels seine Inszenierung „Fragment Woyzeck“ zur Premiere.
Gesamtkonzeption: René Reinhardt
Gestaltung Kubus: Elisabeth Schiller-Witzmann
Produktion Hörstück: David Fischbach
Sprecher: Laila Nielsen, Thomas Dehler, Johannes Gabriel, Wolfgang Gerber, David Jeker, Andreas Keller, Alexander Pensel, Mario Rothe-Frese, Christopher Schleiff
Technische Leitung Kubus: Robert Schiller
Ein Projekt der Schaubühne Lindenfels in Kooperation mit dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, Amnesty International / Hochschulgruppe Leipzig, Buchfunk Verlag, Universität Leipzig – Institut für Theaterwissenschaft. Gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, Stadt Leipzig, LEIPZIGSTIFTUNG, Sparkasse Leipzig. Mit Unterstützung von Cine Impuls.”
Zum anschließenden „Büchner-Zyklus” verschiedener Veranstalter an verschiedenen Orten heißt es:
BÜCHNER ZYKLUS Ein Projekt der Schaubühne Lindenfels Leipzig in Kooperation mit Theater Winkelwiese, Zürich, und Dinoponera / Howl Factory, Strasbourg.
Der „Büchner Zyklus“ folgt innerhalb von zwölf Monaten den Lebensstationen Georg Büchners und denen seiner Protagonisten in drei europäischen Ländern und trägt sein politisches Denken und seine Diskurse mitten in die jeweiligen Stadtgesellschaften von Leipzig, Zürich, Straßburg sowie in die Gemeinde Waldersbach (F) hinein. Damit verbindet der Zyklus zwei Stationen des Autoren und politischen Flüchtlings Georg Büchner (Strasbourg, Zürich) mit zwei weiteren Orten, die als Schauplätze realer historischer Ereignisse eine wesentliche Rolle für das Werk Büchners gespielt haben (Leipzig, Waldersbach).
Georg Büchner war studentischer Aktivist im Kampf für Gleichheit und für eine demokratische Vision von Deutschland und Europa. Er war ein genialer Dichter und ehrgeiziger Wissenschaftler. Er wurde zum politischen Flüchtling und zum Schriftsteller im Exil. Gleichzeitig war er ein junger Mensch mit selbstverständlichen Sehnsüchten nach einem erfüllten Leben, nach Liebe und Geborgenheit in einer eigenen Familie. Seine Figuren sind geprägt von diesen Erfahrungen und ihren An- bzw. Abwesenheiten. Seine Diskurse bewegen sich im Konfliktfeld zwischen „großer Politik“ – einschließlich des seiner Erfahrung nach vorläufig aussichtslosen Hoffens auf gesellschaftlichen Ausgleich oder radikalen Wandel – und andererseits den Bedürfnissen, Ansprüchen und Sehnsüchten des Einzelnen, die beständig im Widerstand zu ersterem stehen.
Der BÜCHNER ZYKLUS nimmt im August 2017 mit der Installation eines temporären Monuments auf dem Leipziger Marktplatz unter dem Titel „Woyzeck, letzte Szene, ein öffentlicher Platz“ seinen Anfang. Unter dem Titel „Anatomie Woyzeck“ wird zwischen Herbst 2017 und Frühjahr 2018 eine Lecture Performance Reihe an ungewöhnlichen Orten konzipiert, die sich dem Komplex Woyzeck mithilfe von Wissenschaftlern unterschiedlichster Fachrichtungen nähert. Im Frühjahr 2018 feiern dann die Leipziger Inszenierung „Fragment Woyzeck“ in der Schaubühne Lindenfels Premiere, die Stücke „Lenz“ (Theater Winkelwiese, Zürich) und „Purge (nach Dantons Tod)“ (Dinoponera / Howl Factory, Strasbourg) werden ebenso im Frühjahr 2018 entwickelt und im Rahmen einer Büchner-Woche in Strasbourg und Waldersbach im März/April 2018 gezeigt und in Verbindung mit den gemeinsam entwickelten und durchgeführten theatralen Stadtbegehungen der Öffentlichkeit präsentiert. Das Monument aus Leipzig, ein Kubus, der dem Schafott, auf dem Johann Christian Woyzeck 1924 in Leipzig hingerichtet wurde, entspricht, soll ebenfalls in Strasbourg zu sehen sein.
Der Zyklus endet im Frühsommer 2018 mit dem internationalen Fragment Festival: Georg Büchner, im Rahmen dessen u.a. die drei entstandenen Inszenierungen gezeigt werden und gemeinsam mit allen drei Partnern der letzte Stadtspaziergang des Zyklus entsteht, der sich aus den jeweiligen Erfahrungen der vorangegangenen Wanderungen in Frankreich und der Schweiz zusammensetzt. Das Programm der Büchner-Woche wird in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig durch ein Studierendenpanel und ein wissenschaftliches Symposium ergänzt.
Ich will versuchen, am 27.8. in Leipzig zu sein und anschließend hier zu berichten; auch die weiteren Aktivitäten werde ich aufmerksam verfolgen.
* Die Überschrift ist ein Zitat aus dem Gutachten von Johann Christian August Clarus: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, Erlangen 1825, hier zitiert nach dem Buechnerportal.
von Peter Brunner
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