Aus naheliegenden Gründen habe ich grade mal über Günter Grass‘ Büchnerpreis 1965 (!) nachgelesen.
Sein Laudator Kasimir Edschmid sagte, angesichts dessen, was seit der Todesnachricht zu lesen und zu hören ist, mit erschreckender Aktualität:
„… ich gehöre zu den Bewunderern dessen, was die Meute Ihnen gemeinhin vorwirft – bis fast ins Detail, auch wenn ich diese Details der Harmonie des Ganzen oft nicht entsprechend finde. Ich verwechsele dabei nicht Ihre Popularität mit der Qualität des Geschriebenen. Das sind verschiedene Aspekte und haben nichts miteinander zu tun. Aber ich möchte betonen, daß ich die Angriffe auf Ihre Bücher zum Teil beschämend niedrig fixiert und die Gestalten Ihrer Feinde und deren Taktik erbärmlich finde. Andererseits distanziere ich mich gern von gewissen Hymnen, die Ihnen dargebracht werden und die ich für Automatenmusik halte.”
Grass spricht, unmittelbar nach dem erneuten Scheitern der Sozialdemokratie unter Willy Brandt, die Mehrheit im Bundestag zu erobern, mit Verve über sein Engagement und schließt:
„Meine Damen und Herren! Anfangs versprach ich, Bilanz zu ziehen. Der Anlaß dieser Rede gab mir die Möglichkeit, mit Georg Büchner die deutsche Emigration zu ehren. Wenn unsere Jugend nicht lernt, sie als gewichtigen und oft besseren Teil unserer Geistesgeschichte zu werten, wenn, wie heute, abermals zu befürchten ist, daß uns der Geist und die Künste, zum wievielten Male, emigrieren, dann wird es an der Zeit sein, unsere Nachbarn zu warnen: Gebt acht, ihr Tschechen, Polen, Holländer und Franzosen: die Deutschen sind wieder zum Fürchten! – Soll so die Bilanz schließen? Es wollen noch einige Zahlen für sich sprechen. Doch wenn es in Georg Büchners »Hessischem Landboten« darum geht, den getretenen Bauern vorzurechnen, wie im Großherzogtum Hessen mit ihren Steuergulden umgegangen wird, wenn Büchner die über sechs Millionen Gulden den »Blutzehnten« nennt, »der vom Leib des Volkes genommen wird«, dann fällt es mir schwer, die bemessenen Erfolge meiner zwei Wahlreisen auf Heller und Pfennig abzurechnen. Wir konnten nur Akzente setzen und – alles in allem – das Selbstverständliche tun. Ich danke den Schriftstellern Siegfried Lenz, Paul Schallück, Max von der Grün und dem Komponisten Hans Werner Henze, die »selbstverständlich!« sagten, als ich sie bat, zur Wahl zu sprechen. Wenn also diese Rede einen Titel haben soll, dann mag sie heißen: Rede über das Selbstverständliche. Den Mund aufmachen – der Vernunft das Wort reden – die Verleumder beim Namen nennen. Wird es morgen schon selbstverständlich werden, das Selbstverständliche und seinen Sieg vorbereiten? Sieg! – Ausrufezeichen. Sieg? – Fragezeichen. Sieg: – Doppelpunkt.”
Die vollständigen Texte zum Büchnerpreis 1965 (und zu allen anderen Preisträgerinnen seit 1951!) finden sich auf der sehr schön neu gestalteten Site der Akademie für Sprache und Dichtung.
Schreibe einen Kommentar