Am 28. November 1821, vor 193 Jahren, starb Luise Büchner in Darmstadt.

Ludwigsplatz, Haus Böttinger um 1935

Das Haus in der Oberen Baustraße, heute Elisabethenstraße, am Darmstädter Ludwigsplatz, in dem Luise Büchner geboren wurde (ca. 1935, Foto Stadtarchiv Darmstadt – links der heute noch stehende Brunnen, den es 1821 ebensowenig wie die Fahrräder gab)

 

In ihrem meist zitierten Werk, Die Frauen und ihr Beruf, in der Ausgabe letzter Hand, der 4. von 1872, ist der Anfang des Kapitels  „Die Pflicht der Selbsterziehung“ ein gutes Beispiel dafür, wie Luise Büchner weit über die damals üblichen Erziehungsratgeber hinaus erkennt und beschreibt.

 

Die Pflicht der Selbsterziehung

Vor die Trefflichkeit setzten den Schweiß die

unsterblichen Götter.

Hesiod.

 

Der ist gut vor Allen, der selbst jedwedes erkennet,

Sinnend im Geist, was künftig ihm Besserung schaffe zum End‘ aus!

Hesiod.

 

Es denkt gewiß heutigen Tages kein Gebildeter mehr daran, die Behauptung zu verneinen, daß die ganze Fortentwicklung der Menschheit lediglich auf deren Erziehung und Bildung beruht. Dies ist keine neue Wahrheit, aber in ihrer ganzen Bedeutung ist sie wohl noch zu keiner Zeit so tief aufgefaßt und begriffen worden und so wird gewiß auch das Wie, welches dem höheren Ziele entgegenführt, von allen Seiten stets deutlicher erkannt und entwickelt werden.

Auf den Lykurgischen Standpunkt, der ein ganzes Volk nach der Schablone erziehen will, werden wir wohl hoffentlich nie mehr zurückkommen und sicherlich ist nur jene Ansicht unserer Zeit und der fortgeschrittenen, sittlichen Entwicklung würdig, welche stets bei der Erziehung die Individualität des Einzelnen im Auge behält.

Darum muß aber auch sowohl die öffentliche, als die häusliche Erziehung zuerst darauf hinwirken, daß der Einzelne sich selbst als Individuum schätzen lerne und daß der Trieb in ihm lebendig wird, an seiner Entwicklung thätig mitzuwirken. –

 

Sehen wir uns in der Geschichte der alten und neuen Zeit um, wo finden wir ein schöneres Vorbild der Volkserziehung, als in der Atheniensischen, die jedem Einzelnen die Möglichkeit einer freien, geistigen Entwicklung darbot? Wenn sich dort auf einem kleinen Fleck Erde Alles vereinigt fand, was die griechische Kunst Großes leistete, wo die Philosophie in offenen Schulen gelehrt wurde und das Spiel der Bühne ohne Unterschied allen Bürgern zu Theil wurde – wenn sich dort also eine Bildung geltend machte, von der wir heute kein Beispiel mehr haben und nach deren Ideal Dichter und Gelehrte aller folgenden Zeiten die Hände verlangend ausstreckten, so ist doch nicht zu verkennen, daß unsere Zeit so viele Bildungsmittel fast aller Orten aufgehäuft hat, um den Meisten, wenn sie ernstlich wollen, die Möglichkeit der Selbstbildung zu gewährleisten. Daß wir als deren schönste Frucht wiederum nur die höhere, moralische Empfänglichkeit, die reinste Humanität begrüßen können, versteht sich von selbst. –

So wie also jeder Einsichtsvolle den Fortschritt der Menschheit in der Entwicklung des Menschen sieht, kann er wohl nicht anders, als auch umgekehrt, die Verbrechen, die Laster und Fehler, welche die Menschheit beflecken, nicht in deren ursprünglicher Verderbtheit, in einer angeborenen Sucht zum Bösen zu erblicken, sondern er wird sie lediglich in individuellen Anlagen und was noch mehr ist, in den Verhältnissen suchen, unter deren Einfluß sich entweder der Einzelne, oder ganze Schichten einer Bevölkerung entwickelt haben.

Verdammung des Fehlers, aber objective Beurtheilung des Fehlenden, nach Maßgabe der Umstände und Verhältnisse, unter denen seine Individualität sich entwickelte, dieses muß nach unserer bescheidenen Ansicht, heute das Programm jedes ächten Anhängers der Humanität sein. Daß man diesen Grundsatz häufig mißdeutet und verkennt, daß man eine Verherrlichung des Schlechten überhaupt darin erkennen will, ja, daß auch andererseits Manche und nicht selten die Poesie in ihren Werken das Verbrechen mit dem Verbrecher zu adeln sucht, selbst diese Abirrung kann ihm von seiner inneren Wahrheit und Trefflichkeit nichts rauben. Die concrete Erscheinung hat ohne Zweifel das Recht, auch concret beurtheilt zu werden, ehe man ein Verdammungsurtheil über sie ausspricht. Es muß sich natürlicherweise dieser Grundsatz auf alle Verhältnisse und Beziehungen des Lebens anwenden lassen; es gilt eben so wohl für die kleinsten Fehler als die gröbsten Vergehungen, und die Ersteren sind es eigentlich, von welchen wir hier zu reden haben.

Wir schreiben für und über die Familie und es ist hier unsere Aufgabe zu zeigen, wie neben der nothwendigen Toleranz der Einzelnen unter einander, sich der sittliche Ernst des Individuums, der Trieb nach seiner eigenen, höheren Fortentwicklung geltend machen muß. Denn es gibt kleinere Vergehen, kleinere Fehler, die in ihrer täglichen Wiederholung oft grausamere und abscheulichere Folgen nach sich ziehen, als ein einfacher Todtschlag, und wir haben die größten Verbrecher und Verbrecherinnen nicht immer auf dem Schaffot oder in den Jahrbüchern der Criminalisten zu suchen. –

Sei uns aber das Innere eines Menschen und seine Handlungsweise noch so unklar und dunkel, wir werden beide verstehen lernen, sobald wir erfahren, unter welchen Verhältnissen und Beziehungen es sich entwickelte. Tout savoir, c’est tout comprendre, sagt ein geistreicher Franzose, und gewiß, könnten wir genau den Gang verfolgen, welchen die Erziehung von tausenden sogenannt »Wohlerzogenen« genommen, wir würden uns weit öfter in dem Fall sehen, beweinen und beklagen zu müssen, als daß wir verdammen dürfen.

Aber ist damit der Tugend und der Sittlichkeit Genüge geleistet? Sind beide damit zufrieden gestellt, wenn wir uns fast täglich genöthigt sehen, die alte Entschuldigung zu wiederholen: »Was konnte aus dem Menschen Besseres werden bei dieser Erziehung, diesem Beispiel, bei so vieler Vernachlässigung, das Gute zu wecken und zu pflegen?« Das aber ist die wahre Erbsünde, welche sich fortpflanzt von Geschlecht zu Geschlecht, daß es noch zu häufig mißkannt wird, was man der heranwachsenden Generation schuldig ist. Man glaubt gewöhnlich, es sei genug, die Kinder von dem Anblick grober Laster entfernt zu halten; als ob es genügen könnte, sie allein vor Diebstahl, Raub und Mord sicher zu stellen. Der tägliche Anblick des Leichtsinns, des Zorns, der Koketterie, der Unordnung, der Vergnügungssucht und der Oberflächlichkeit, wirken sie nicht gleichfalls demoralisirend auf das jugendliche Gemüth? Was nützen die schönsten moralischen Reden und Lehren der Eltern und Erzieher, wenn nicht das Beispiel des Guten und Schönen hinzutritt!

Diese Ersten sind es also vornehmlich, denen die Pflicht, an der eigenen Fortentwicklung unermüdlich zu arbeiten, nicht dringend genug an das Herz gelegt werden kann; Eltern, welche sich mit ihren Kindern nicht noch einmal miterziehen, sind sich selten klar über den ganzen Umfang ihrer Pflichten. Wer nur einige Erfahrung in der Welt gemacht, hat es gewiß schon hundertmal gesehen, wie systematisch in Kindern durch die Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit ihrer Erzieher, die fehlerhaften Anlagen auf Kosten der Besseren recht geflissentlich entwickelt und gesteigert werden.

Der vollständige Text findet sich z.B. hier bei Zeno.org

SPeterBrunner

von Peter Brunner