Ludwig Büchners letzte Veröffentlichung ist eine Art politisches Testament. „Am Sterbelager des Jahrhunderts. Blicke eines freien Denkers aus der Zeit in die Zeit” hat er 1898, ein Jahr vor seinem Tod, bei Emil Roth in Gießen veröffentlicht.

 

Anlässlich der Tagesereignisse hier ein kleiner Auszug aus dem Kapitel „Politik”

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„Man bedenke ferner, dass der Parlamentarismus keine wirkliche Volksherrschaft bedeutet (namentlich dort nicht, wo er, wie in Deutschland seine Herrschaft mit derjenigen der Krone teilen muss), sondern eine Tyrannei zufälliger Majoritäten in den parlamentarischen Körperschaften. Ja diese Tyrannei kann unter Umständen zu derjenigen eines Einzelnen oder weniger werden, wenn die Stimmenzahl auf beiden Seiten sich so sehr ausgleicht, das eine oder einige Stimmen den Ausschlag geben.

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Oder die parlamentarische Mehrheit kann in Wirklichkeit die Minderheit des Volkes, die parlamentarische Minderheit die Mehrheit desselben ausdrücken. … Selbst die allgemeine Hebung der Bildung, welche man als Korrektiv des allgemeinen Stimmrechtes anzusehen oder anzupreisen pflegt, würde schwerlich etwas nützen. Wären z. B. alle französischen Wähler so intelligent, wie die Mitglieder des Senats und der Deputiertenkammer, so würde das allgemeine Stimmrecht nichtsdestoweniger die Herrschaft der Gewalt durch die Zahl sein. Nicht selten hat, wenn sich die Regierungspartei und die Opposition in einigermaßen gleicher Stärke gegenüberstehen, eine verhältnismäßig kleine Fraktion es in der Hand, den Ausschlag nach dieser oder jener Seite zu geben, und beherrscht somit trotz ihrer Minderzahl das Land und seine Interessen. Dazu kommt der erbärmliche, unwürdige Schacher, der zwischen den einzelnen Fraktionen um die heiligsten Volksinteressen nach dem Prinzip „Eine Hand wäscht die andere“ getrieben zu werden pflegt. Überhaupt ist die ehedem nicht gekannte Zerspaltung der gesetzgebenden Körperschaften in eine Anzahl politischer Fraktionen und Fraktiönchen ein Krebsschaden des modernen Parlamentarismus. Früher kannte man das nicht, und der Gegensatz zwischen rechts und links, zwischen Regierungspartei und Opposition war in der Regel der einzige, welcher diese Körperschaften spaltete, während die Zentrumspartei das ausgleichende und vermittelnde Moment darstellte. Heutzutage aber geht jede Fraktion ihre eigenen, mit den Wegen anderer Parteien in der Regel unvereinbaren Wege. Ein ewiges Gezänke oder gegenseitiges unwürdiges Feilschen ist die notwendige Folge, und man muss von Glück sagen, wenn diese Gezänke nicht, wie leider so oft, in gemeine und die Würde der Volksvertretung auf das Schwerste kompromittierende Handgreiflichkeiten ausartet. Fragt man nach der Ursache dieser wenig erfreulichen Erscheinung, so wird sie wohl hauptsächlich darin zu suchen sein, dass nach und nach infolge der großartigen Entwickelung aller materiellen Verhältnisse an die Stelle der ehemaligen Ideal-Politik die jetzt herrschende Interessen-Politik getreten ist, vermittelst welcher jeder Einzelne oder jede einzelne Gesellschaftsklasse bei der allgemeinen Güterteilung soviel Vorteile wie möglich für sich selbst herauszuschlagen sucht. Diese Interessenpolitik ist aber die geschworene Feindin derjenigen Politik, welche Vernunft und Wissenschaft vorschreiben. Wenn z.B. Schutzzölle im Interesse gewisser Gesellschaftsklassen liegen, so werden ihre Vertreter dafür stimmen, einerlei was Wissenschaft und Gerechtigkeit dazu sagen. Oder wenn die Verfechter dieser letzteren im Interesse einer vernünftigen Sozialpolitik Maßregeln zu größeren Ausgleichung des Besitzes vorschlagen, so werden sich die Vertreter der besitzenden Klassen dadurch schwerlich ihre Zustimmung abnötigen lassen. Zwei der hervorragendsten und wohlbegründetsten Forderungen, welch der vernünftige und wissenschaftliche Sozialismus aufstellt, sind bekanntlich einmal die Zurückführung des Grundes und Bodens in den Besitz der Allgemeinheit und zum zweiten die Einschränkung der Erbrechte. Aber wie gering ist die Zahl derjenigen, welche diesen Forderungen zustimmen oder welche überhaupt nur Kenntnis davon genommen haben; und wie noch weit geringer würde die Zahl der Volksvertreter sein, welche es den persönlichen Interessen der Wähler und ihrer selbst gegenüber wagen würden, solchen Vorschlägen auch nur ein Ohr zu leihen! Auch unser, an anderer Stelle dieser Schrift genauer begründeter Vorschlag einer Umwandlung der menschlichen Gesellschaft und des Staates in eine große, auf Gegenseitigkeit beruhende Versicherungsgesellschaft gegen Krankheit, Unfall, Alter, Invalidität und Tod, dessen Ausführung allein schon den größten und drückendsten Teil des sozialen Elends aus der Welt schaffen würde, dürfte in unseren gegenwärtigen Parlamenten schwerlich auf Unterstützung zu rechnen haben, so sehr auch Vernunft und Wissenschaft dafür sprechen. Geredet wird zwar in diesen Parlamenten unendlich viel, aber gethan oder erreicht um so weniger.

Übrigens wird die Politik der Zukunft und damit auch der künftige Parlamentarismus ganz anderen und schwierigeren Aufgaben gegenüberstehen, als den bloß politischen der Gegenwart; denn sie steht, wie in einem späteren Kapitel noch eingehender nachzuweisen werden wird, unter dem Zeichen des Sozialismus oder der Gesellschaftsverbesserung, im Vergleich mit welcher das Streben nach politischer Einheit und Freiheit, so berechtigt dasselbe an sich sein mag, doch nur eine untergeordnete oder zweite Rolle zu spielen vermag. Denn nur der gesellschaftlich und wirtschaftlich Freie kann in Wahrheit auch politisch frei sein!

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(Ludwig Büchner: Am Sterbelager des Jahrhunderts. Gießen, Roth, 2. Aufl., 1900, S. 249 ff)