Nachdem er 1855 bereits eine zweibändige „Geschichte der englischen Poesie“ vorgelegt hatte, veröffentlichte Alexander Büchner 1858 die zweibändigen „Französische Literaturbilder…“. Der folgende Text aus der Einleitung verdient aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt wegen immer wieder auffälligen Büchner´schen Modernität, Aufmerksamkeit. Es ist außerdem wahrscheinlich der erste literaturtheoretische Text, der ein Luftschiff erwähnt (welches nämlich nur sechs Jahre früher,  1852, überhaupt erstmals – von Paris nach Trappes – über 27 km gefahren war).

 

 

„Unsere Zeit steht im Begriff, durch das Mittel des täglich wachsenden internationalen Verkehrs die noch bestehenden Stammes-, Sitten- und sonstige Verschiedenheiten der heutigen europäischen Kulturvölker unter sich auszugleichen. Wir haben in großen Städte Leute kennen gelernt – und zwar nicht nur Deutsche, sondern auch Ausländer, und keine Ideologen, sondern erfahrene, praktische Geschäftsmenschen welche, unter Anführung vieler empirischer Gründe, – behaupteten, binnen fünfzig bis hundert Jahren werde von den gegenwärtigen Unterschied jener Nationen, namentlich der Deutschen, Engländer und Franzosen, wenig mehr zu bemerken sein; namentlich müsse sich bis dahin eine gemeinsame, für Alle gleichmäßig verständliche, Verkehrs- und Umgangssprache gebildet haben. Die zunehmende Propaganda der, Aehnliches bezielenden, philanthropischen und handelspolitischen Friedensdoktrinen ist bekannt. Ob die Darstellung des Schönen im Leben, die Kunst, und insbesondere die Poesie, von diesen Aussichten und Bestrebungen ebensoviel Gewinn zu erwarten hat wie die rein praktische Seite unseres Daseins, das steht dahin, und erst der Erfolg wird diese Frage endgültig entscheiden können. Mögen sich dann aus jener Umgestaltung neue poetische Gesichtspunkte ergeben, mag sich der Lyriker durch den Anblick eines Luftschiffes begeistern, der Didaktiker die Einrichtung des elektrischen Telegraphen besingen wollen, mag das Drama die unerhörten Kontraste zwischen der werdenden und der vergehenden Welt entdecken, und der Roman aus der Verwischung der Individualität der Nationen die unendlichsten Verwicklungen ableiten.

 

 

Bis jetzt lehren uns Theorie und Praxis nur, daß der Kosmopolitismus dem poetischen Interesse immer feindlich gewesen ist, da, so reiche Erfolge oft auch die gegenseitige geistige Befruchtung der Völker erzielt, die höchsten Grade ihres künstlerischen Verdienstes doch immer nur in denjenigen Stoffen und Formen gelegen haben, welche ihre besonderen, inneren Eigenthümlichkeiten ausdrückten, ihrer nationalen Geschmacksrichtung zusagten, ihrem angeborenen Talent entsprachen, sich ihren historischen Antecedentien anpaßten.

Zwar dürfte Niemand mehr die Allgemeingültigkeit gewisser ästhetischer Begriffe und Grundsätze, wie für alle Künste, so für alle Zeiten und Nationen, leugnen wollen. Allein das verhindert nicht, daß manche Gattungen und Formen der Kunst dem Einen Volk mehr als dem Anderen passen, daß das Eine mehr auf diesem, das Andere mehr auf jenem Felde leistet. Wer wird den Griechen den Vorrang in der Plastik, den Römern in der monumentalen Kunst, den Italienern in Musik und Malerei, den Engländern in der Tragödie und im Roman, den Deutschen in der Lyrik und in der kirchlichen Architektur, den Franzosen am Lustspiel und in der Mimik bestreiten wollen? Wenn wir es uns also in den nachstehenden Aufsätzen zur Aufgabe machen, die Wirksamkeit der letzteren Nation auf dem Gebiete der Dichtung zu betrachten, so müssen wir vor allen Dingen erwägen, welche poetischen Stoffe und Formen ihrer Fähigkeit am angemessensten sind, welche Gattungen sie mit besonderer Vorliebe und dem größten Erfolg gepflegt haben, wo ihre Thätigkeit im Dienste der Musen ihre starken, und wo sie ihre schwachen Seiten hat. … ”

 

Alexander Büchner: Französische Literaturbilder aus dem Bereich der Aesthetik, seit der Renaissance bis auf unsere Zeit. Frankfurt am Main. Hermann´scher Verlag. 1858. Einleitung: Die starken und die schwachen Seiten der französischen Dichtung.