Ich gestehe: der Fund ist ein Fake – mein Beitrag zum 1. April 2019. Aber alle Umstände darum herum sind so genau wie möglich geschildert, und: es hätte so sein können! Insofern ist es auch nicht ausgeschlossen, dass sich eines Tages wirklich noch Reste des illegalen Drucks finden.

Am heikelsten bei der Rekonstruktion war übrigens die Frage, warum sich der Strick, mit dem der Druckstock zusammengebunden war, nicht längst aufgelöst und das Puzzle in tausend einzelne Teile zerlegt hat. Daher der Stahldraht …

Die Reingelegten bitte ich um Verzeihung, den Besserwissenden gratuliere ich. Und jetzt folgen wieder 12 Monate garantiert wahre Originalberichte aus dem Büchnerland – bleiben Sie verbunden!

Mario Derra, Freund, Künstler, Lithograph, Typograph … aus Gernsheim, ohne dessen Kompetenz und Hilfe das hier nicht möglich gewesen wäre
Das „Vinyl“, eine fototechnisch hergestellte Druckplatte von einem Original des „Landboten”, die wir mit Farbe und Photoshop zum Originaldruckstock gemacht haben

Ein Anruf aus Fechenheim hat mich kürzlich ans Mainufer geführt. Ob ich mich mit Büchner, dem hessischen Landboten und Offenbach auskenne, hier liege ein merkwürdiger Fund, den ich mir ansehen solle.

Kurz darauf stand ich dort am Ende der Starkenburger Straße mit Blick aufs gegenüber liegende Offenbacher Ufer. Dort steht seit dem späten 16. Jahrhundert das Isenburger Schloss .

Im 19. Jahrhundert, genau von 1819 – 1887, überquerte an dieser Stelle eine Schiffbrücke den Main und verband das Großherzogtum Hessen mit Kurhessen, der Landgrafschaft Hessen-Kassel.

Das Isenburger Schloss am Offenbacher Mainufer mit der Schiffbrücke. Postkarte von 1887.

Auf kurhessischer Seite, also am nördlichen Mainufer, nahe bei der Schiffsanlegestelle und dem Restaurant „Schloßblick“, hat eine aufmerksame Spaziergängerin, die (noch?) unbekannt bleiben möchte, einen außergewöhnlichen Fund gemacht. Am Rande der dort eingerichteten Baustelle, im aufgewühlten Boden, lag ein Objekt, das ihr Interesse erregte.

Blick vom Mainufer nach Norden Richtung Fechenheim. Die Starkenburger Straße, die früher schnurstracks zur Schiffsbrücke führte
Blick nach Süden von Fechenheim nach Offenbach. Gegenüber das Isenburger Schloss.

Leider hat sie es nicht nur freigelegt, sondern auch nach Hause getragen und dort gründlich abgeduscht und abgebürstet. Nun lässt sich daraus schwerlich im Nachhinein ein Vorwurf machen – an Fundsachen steht halt selten ein Hinweis über ihre außerordentliche Bedeutung …

Die Verlängerung der Starkenburger Straße nach Süden auf den Main zu
Bauarbeiten am Rande des „Fechenheimer Leinpfades”, die möglicherweise den Boden aufgewühlt und so den Fund zugänglich gemacht haben

Das Fundstück, und deshalb gehört die Nachricht hierher, ist ein „Büchnerianum“ erster Güte:

es ist der erhaltene Druckstock der ersten Seite des hessischen Landboten von 1834.

Der Druckstock zur Seite 1 des Hessischen Landboten von 1834

Zur Erläuterung bedarf es drucktechnischer und historischer Erläuterungen:

Die hessischen republikanischen Verschwörer um den Butzbacher Friedrich Weidig entschieden am 3. Juli 1834 bei einem Treffen auf der Badenburg bei Gießen, Georg Büchners aufrührerisches Flugblatt „Der Hessische Landbote“ drucken und verteilen zu lassen. Am 5. Juli hat Büchner das Manuskript zusammen mit dem Mitverschworenen Jakob Friedrich Schütz nach Offenbach zu Karl Preller getragen. Preller war auch der Drucker der bis dahin von den Demokraten herausgegebenen illegalen Flugschrift „Leuchter und Beleuchter für Hessen“.

Preller druckte bis zum 31. Juli, am 1. August holten die Gießener Studenten Minnigerode, Schütz und Zeuner die Exemplare ab. Hier wird die Überlieferung ungenau, sicher scheint, dass sie in Offenbach zunächst abgewiesen wurden, vielleicht, weil unliebsame Zeugen anwesend waren, und sich auf den Mönchshof, nördlich von Offenbach, zwischen den kurhessischen Orten Enkheim und Bergen, begaben, wo sie übernachteten. Am nächsten Morgen, so Hauschild, wurden die gedruckten Exemplare, die „ … wahrscheinlich als Lederpacken deklariert bzw. in solchen versteckt, aus Offenbach herausgeschmuggelt“ waren (Hauschild, aaO, S. 364), auf die beiden Kuriere verteilt. Der Schmuggel aus der Stadt und damit aus Hessen-Darmstadt heraus war also offenbar schon geschehen.

A: der Fundort auf damals kurhessischem Gebiet, am nördlichen Ende der damaligen Schiffbrücke
B: Das Isenburger Schloss
C: Prellers Werkstatt in der Frankfurter Straße 17 (heute Nr. 40)
(„Karte der Umgegend von Frankfurt. Originaltitel:
Karte der Umgegend von Frankfurt / in das trigonometrische Netz der allgemeinen Landesvermessung von dem Grossherz. Hessischen Generalquartiermeisterstab aufgenommen  …“ Darmstadt 1865. Ausschnitt)

Der Rest der Geschichte ist bekannt. Minnigerode wird am 1. 8. gegen 18:30 am Stadttor von Gießen verhaftet, er ist verraten worden. Büchner, ebenfalls verdächtigt (in seiner Abwesenheit wird seine Wohnung aufgebrochen und durchsucht), macht sich Hals über Kopf (und zu Fuß …) auf den Weg, den Drucker in Offenbach zu warnen. (Für die gut 60 km lange Strecke gibt übrigens Google Maps heute 12:30 Stunden „Fußweg” an.) Gegen Mittag des 2. Augusts trifft er ein, Preller lässt Beweismaterial verschwinden. Die unmittelbar folgenden Durchsuchungen am Nachmittag des gleichen Tages in der Offenbacher Druckerei und in Prellers Wohnung außerhalb auf dem Weg nach Frankfurt bleiben erfolglos.

Wo und mit welcher Technik Preller druckte, ist bis heute ungeklärt. Hauschild, der die Umstände von Auftrag, Druck und Verteilung der „1.500 – 2.000“ gedruckten Exemplare des Landboten in seiner Büchner-Biographie ausführlich schildert (Hauschild, Georg Büchner. Biographie. Stuttgart. Metzler. 1993, SS 361 ff), erwähnt das nur in einem Nebensatz, in dem es um die erfolgreiche Vertuschung des Drucks vor der Durchsuchung geht. Danach habe Weidig später berichtet, „ .. .sie sind auf dem Versteck herumgegangen, in dem sie sich befand, und wenn sie nur eine Diele aufgehoben hätte, so hätten sie die Presse gefunden“.

Ralf Beil hat in der Darmstädter Büchner-Ausstellung von 2013 eine Druckerpresse (Modell Stanhope) aufstellen lassen, die zwar ziemlich sicher das falsche Modell war, aber immerhin anschaulich machen konnte, dass sich ein solches Trumm jedenfalls nicht unter Dielen hätte verstecken lassen.

Pressekonferenz zur Ausstellungseröffnung „Georg Büchner – Revolutionär mit Feder und Skalpell“ in Darmstadt am 9. Oktober 2013. Kurator Ralf Beil vor der nicht authentischen Druckpresse.

Das gilt sicher für jede denkbare Drucktechnik der Zeit, mit der sich 2.000 Exemplare des Flugblattes in vier Wochen herstellen ließen (auch wenn dieser wichtige Hinweis in der Ausstellung unterblieb).

Clark’sche Presse. Abb. und Erläuterung aus „Der Hessische Landbote. Die Entstehung und die Folgen“. Offenbach. Grafische Werkstätten für Technik & Kunst. Hg. von Klaus Kroner. Die Jahreszahl in der letzten Zeile muss natürlich „1826“ heissen.

Wenn nun also nicht die Druckerpresse unter den Dielen steckte, was war es dann? Tatsächlich ist es unter den Gesellen der schwarzen Kunst gar nicht unüblich, „Presse“ als Synonym für mindestens dreierlei zu benutzen: so kann eine Presse natürlich die Druckmaschine sein, wie das Zitat bisher immer verstanden wurde, aber ebenso kann auch das Zeitungswesen oder eine Zeitung gemeint sein; und schließlich kann Presse auch der Druckstock sein, von dem gedruckt wird. Ein solcher Druckstock besteht aus den von Hand gesetzten bleiernen Lettern, zu Zeilen und Absätzen angeordnet, mit Füllmaterial auf Seitengröße gebracht und mit einem festen Band so stabil umschlossen, dass das bis dahin ganz filigrane Objekt aus tausenden von Einzelteilen dann wie eine einzige Metalltafel wirkt. Dieser Druckstock, das erhabene Spiegelbild des späteren Drucks, wurde zu Prellers wie zu Gutenbergs Zeiten in der Druckerpresse eingespannt und mit Farbe versehen. Unter Druck (daher der Name) wird dann ein Bogen Papier darübergelegt und – abgedruckt. Ist der Druck beendet, wird der Druckstock gereinigt, das Band gelöst und das Setzmaterial – Buchstaben und Füllmaterial – zurück in den Setzkasten sortiert. Ist allerdings absehbar, dass bald der gleiche Text erneut gedruckt wird, und steht dem Drucker eine ausreichende Menge an Bleibuchstaben zur Verfügung, so wird der ganze Druckstock, der „Stehsatz“ aufbewahrt. Das macht natürlich weitere Auflagen erheblich schneller und billiger möglich. Die Tatsache, dass der gefundene Druckstock ungewöhnlicher Weise mit einem Stahldraht statt mit einem gewöhnlichen Strick umbunden war (und so überhaupt erst ermöglichte, dass das Stück in Ganzen erhalten und geborgen werden konnte!), lässt vermuten, dass an eine Wiederverwendung gedacht wart. Solche „Tafeln“ könnten in der Tat unter Fußbodendielen versteckt worden sein.

Der Fechenheimer Fund erklärt sich also so, dass Preller tatsächlich den Stehsatz des Landboten noch zur Hand hatte, sei es, weil er weiter drucken wollte, sei es, weil er keine Zeit gefunden hatte, die Druckstöcke aufzulösen. Büchners Besuch muss ihn aufs höchste alarmiert haben. Es ging um Minuten – und ums Leben. Die Druckstöcke mussten schleunigst verschwinden, und der Main bot sich als verschwiegenes Grab dafür an. Für alle Seiten des Landbotendrucks zusammen brachten die Druckstöcke an die 100 kg auf die Waage, ein Gewicht, das sich so einfach und von einer Person alleine nicht transportieren lässt. So wurden vielleicht einige wirklich unter die Dielen gesteckt, andere außer Haus geschafft.

Büchner übernachtete anschließend, vom 2. auf den 3. August, bei einem Cousin seines Vaters, bei Carl Christian Becker in der Frankfurter Döngesgasse. Er reiste über das großherzoglich-hessische Offenbach nach Frankfurt ein. Am 3. 8. schreibt er an die Eltern „ … weil es von dieser Seite leichter ist, in die Stadt zu kommen, ohne angehalten zu werden. Die Zeit erlaubte mir nicht, mich mit den nötigen Papieren zu versehen”. Offen ließ er dabei, wie er die „Anreise” ohne Papiere bewerkstelligt hatte; es war unmöglich, von Gießen nach Offenbach, beide Hessen-Darmstädtisch – zu kommen, ohne Landesgrenzen zu überschreiten. Ob nun die Druckplatten bis dahin noch in Prellers Druckerei in der Frankfurter Straße in Offenbach oder – was jetzt wahrscheinlicher erscheint – im Fechenheimer Mönchshof lagen, ist heute nicht sicher zu sagen. Offenbar ist jedenfalls „unsere“ Druckplatte für die erste Seite genau in diesem Zusammenhang im Main gelandet. Möglich erscheint, dass das wertvolle Material von Fechenheim zurück gebracht werden sollte, um zurück in Offenbach aufgelöst zu werden, und dass die Grenze an der Schiffbrücke wider Erwarten stark bewacht war. Dann musste die Konterbande schnell verschwinden. Vielleicht waren aber auch mehrere Druckplatten erfolgreich aus Offenbach „ins Ausland“ geschafft worden, aber die Träger waren zu erschöpft, um alle weiter zu tragen, und ließen stattdessen eine oder mehrere unterwegs im Fluss verschwinden.

Ausschnitt aus der Karte w.o.

Immerhin verfügt die Büchnerforschung jetzt über einen bedeutenden Schatz: das Original der Seite eins des Landboten, anhand dessen nun unter anderem die von Klaus Kroner aufgeworfene Frage geklärt werden kann, ob das Satzmaterial, die Bleilettern der „Lutherfraktur“, mit den Typen beim Verleger Sauerländer identisch sind, mit denen später Büchners „Danton“ gedruckt wurde. Das hätte dann also zur Voraussetzung, dass andere (Seiten-)Druckstöcke des Landboten auf irgend einem Weg nach Frankfurt und dort in Sauerländers Drckerei geraten und dort dann fachmännisch zur Wiederverwendung aufgelöst worden wären.

Nachdem die naheliegenden drucktechnischen Untersuchungen zur Typographie der beiden Schriften, des Landboten und des Danton, immer noch nicht erfolgt sind, obwohl Kroner mit seinem Nachweis der Druckvariante des Landboten mit einem Fragezeichen hinter der Parole „Krieg den Palästen“ dafür wahrlich schon Anlass genug gegeben hat, wird das jetzt hoffentlich endlich und gründlich erfolgen.

Das Landesdenkmalamt im Wiesbaden, das ich selbstverständlich bereits über den sensationellen Fund unterrichtet habe und das den Druckstock zunächst in Verwahrung nehmen wird, wird sich mit weiteren Untersuchungen des Fundortes beschäftigen, der inzwischen abgesperrt ist und polizeilich überwacht wird. Großartig wäre natürlich, wenn sich dort noch mehr fände.

Inzwischen erreicht uns die Nachricht, dass sich im Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut die wohl früheste Handschrift Heinrich Heines gefunden habe – solche Überraschungen sind stets willkommen!

Peter Brunner

von Peter Brunner