Peter Brunners Buechnerblog

Kategorie: Büchnerhaus (Seite 4 von 13)

小屋和平!- Xiǎowū hépíng!*

Nachtrag vom 3.4.21:

Also: das war mein Aprilscherz 2021, das mit der Büchnerhauskopie wird nix, und das ist auch gut so.

Mir ist zweierlei aufgefallen: ziemlich viele haben’s wohl geglaubt, und niemand davon hat’s irgendwie antichinesisch kommentiert. Gut so.
 
Immerhin war nicht alles erfunden – mein kleines rotes Buch ist eine ganz frühe Ausgabe mit dem Vorwort von Lin Biao, und damit sollte ich eh nicht in die Volksrepublik einreisen …
 
 
So. Ab heute wieder alles echt im Geschwisterblog!
 
 
 

In den letzten Wochen ist es rund um das coronabedingt geschlossene Büchnerhaus erstaunlich lebendig geworden: von früh bis spät gingen geschäftige Menschen ein und aus. Von außen und innen wurde das historische Bauernhaus begangen und vermessen, fotografiert und skizziert. Große Kameras auf Stativgerüsten rotierten im Hof, Fotodrohnen überflogen das Gelände und aus den Giebelfenstern im Dachgeschoss blickten aufmerksame Gesichter. In der Kunstgalerie lagen Bau- und Bestandspläne auf Tischen ausgebreitet, und das gerade erste eingerichtete öffentliche W-LAN kam regelmäßig an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit.

Auch das Innere des Museums mit der hochgelobten Dauerausstellung zu Georg Büchners Leben und Werk „Von Goddelau zur Weltbühne“ war belebt wie lange nicht. Jetzt endlich konnte Museumsleiter Brunner die Neugierde der Anwohner befriedigen: die Arbeiten stehen nicht im Zusammenhang mit der noch immer bestehenden Veranstaltungsbeschränkung wegen angeblicher Lärmbelästigung. „Das ist eine andere Baustelle“ lächelt Brunner.

„Gemeinsam an einem Tisch“ Installation im Büchnerhaus

Genauen Beobachter*innen hätte auffallen können, dass es sich bei den geschäftig aktiven unter verdeckenden Atemmasken nicht um örtliche Handwerker handelte: statt „Weck und Worscht“ gabs schon zum Frühstück Nudelsuppe, und das benachbarte Restaurant erhielt den Auftrag, „authentisch“ zu kochen und heiß zu liefern. Die Gäste kommen aus der Volksrepublik China, einige von ihnen sind international anerkannte Kapazitäten auf dem Gebiet von Gebäudeschutz und Rekonstruktion, andere sind Dozent*innen am germanistischen Institut. Trotz der Beschränkungen durch die Pandemie konnten die chinesischen Gäste vergleichsweise unproblematisch nach Deutschland und auch wieder zurück kommen: sie alle sind bereits seit Monaten geimpft, einige haben auch eine Corona-Infektion überstanden, in Goddelau konnten sie in einer leerstehenden Asylbewerberunterkunft völlig abgeschottet von der Außenwelt leben und arbeiten, und zurückgekehrt werden sie sich in China trotz all der Vorsichtsmaßnahmen noch einmal 10 Tage lang absondern. Dort können sie dann verwirklichen, was in der Büchnerstadt vorbereitet wurde: Sie planen nichts weniger als eine hundertprozentige Kopie des Goddelauer Büchnerhauses!

 Die ungewöhnliche Kooperation der beiden sonst weit voneinander getrennt operierenden Fachbereiche der renommierten Universität von Nanchang hat ein befreundeter Wanderer zwischen den Welten eingefädelt. Kurz nach dem Erscheinen seines neuen Buchs „Der kleine Herr Tod“ war Christian Y Schmidt Anfang 2020 nach Reinheim gekommen. Brunner konnte ihn überreden, nach der Lesung zu einem Gespräch mit ihm einzukehren, allerdings fand sich in erreichbarer Nähe nur ein höchst bescheidener Asia-Imbiss.

 

 

Dieser allerdings steht direkt gegenüber des Reinheimer Doktorhauses, dort, wo Georg Büchners Vater geboren wurde und wo vor ihm mehrere Generationen von Büchnerärzten praktizierten, was Brunner beredt schilderte.

Das Reinheimer „Doktorhaus“, wo Ernst Büchners Großvater praktizierte und sein Vater geboren wurde

Die Fahrradtour hat die Pandemie mittlerweile ebenso zunichte gemacht wie Schmidts Heimreise zu seiner Frau nach China, aber online fanden mit dem mittlerweile vorübergehend in Berlin untergekommenen Autor ständig Kontakt und Austausch statt.

 

 

Von Map of the Long March 1934-1935-en.svg: Rowanwindwhistlerderivative: Furfur – Diese Datei wurde von diesem Werk abgeleitet:  Map of the Long March 1934-1935-en.svg, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=63200022

Schmidt erfuhr aus der chinesischen Presse von dem Plan der Bauingenieure aus Nanchang, ein deutsches Fachwerkhaus originalgetreu zu kopieren und dabei historische Bautechniken zu studieren. Brunners Schilderung von Büchners Geburtshaus, größer und originalgetreuer erhalten als das mehrfach umgebaute und kürzlich komplett sanierte Reinheimer Haus, regten Schmidt dann zu der zunächst abenteurlichen Idee an, Baukunst und Literatur zu einer ungewöhnlichen Kooperation zu bewegen.

Er sprach Professorin Wang Xin, ebenfalls Dozentin an der Nanchang-Universität, auf Büchners Geburtshaus an – die chinesische Wissenschaftlerin hat über Literatur im deutschen Vormärz promoviert – und fand in ihr eine engagierte Streiterin für das Projekt. Mit chinesischer Präzision und auf für deutsche Verhältnisse unglaublich kurzen Entscheidungswegen fiel im fernen Osten dann die Entscheidung: das Haus wird kopiert und neu errichtet. Geplant ist zunächst die baufachliche Analyse und der eigentliche Bau der Rekonstruktion. Dieser architektonische Teil des Projektes soll 2022 abgeschlossen sein, ab dann steht im hügeligen Wanli Distrikt von Nanchang eine hundertprozentige Kopie des Goddelauer Büchnerhauses.

Danach soll Brunner bei einem Studienaufenthalt den Aufbau der biografischen Ausstellung begleiten und überwachen. Der Plan steht und fällt natürlich auch mit der weiteren Entwicklung der Pandemie, die heute eine solche Reise noch ganz unmöglich macht. In enger Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Germanistik wird die Präsentation vor Ort behutsam modernisiert und dem chinesischen Vorverständnis angepasst. Brunner erwartet von diesem Arbeitsschritt auch wichtige Hinweise für die Weiterentwicklung der Präsentation im Originalhaus. „Ich hoffe sehr darauf, dass Christian Y Schmidt mir auch dort so verbunden bleibt wie das bisher der Fall ist“ schildert Brunner den geplanten Verlauf. „Ich habe zwar mein Originalexemplar des ´kleinen roten Buches` wieder einmal hervorgeholt, aber alleine auf das Befolgen der Mao-Tse-Tung-Gedanken wird sich die Kooperation nicht beschränken lassen, und da muss mich Schmidt sozusagen in die chinesische Moderne begleiten“. Sollte sich das Projekt so erfolgreich entwickeln wie es alle Beteiligten aktuell erwarten, wird nicht ausgeschlossen, dass in Goddelau eines Tages eine originalgetreue Kopie der Lu Xun Memorial Hall in Shanghai errichtet wird – zur Erinnerung an den großen chinesischen Dichter, der mit Büchner neben dem bedeutenden Anteil an der Literatur auch sein soziales Engagement und den Arztberuf teilt.

* Friede den Hütten!

Von Peter Brunner

Am 19.2. 1837 starb Georg Büchner im Zürcher Exil



„Es hieß für den Kranken könne mein Anblick nicht schädlich wirken, denn er würde mich ja doch nicht erkennen – aber mir dürfe man nicht gestatten das entstellte Antlitz zu schauen. Sie können denken daß sobald nur mein Ich in Betracht kam, man mir den Eingang ins Krankenzimmer nicht mehr wehren durfte. Dr Zehnder führte mich hinein, noch vor der Thüre sagte er mir: fassen Sie sich, er wird Sie nicht kennen. Nein, er wird mich kennen, war meine Antwort. Und er hat mich erkannt, er fühlte meine Nähe und ich habe Ruhe über ihn gebracht. 

Er ist sanft eingeschlummert, ich habe ihm die Augen zugeküßt, Sontag d 19 Feb. um halb 4. 

Der Jammer der Eltern ist gränzenlos. Über meine übrigen Lebenstage ist ein schwarzer Schleier geworfen. Der Himmel möge sich meiner erbarmen und mich nur noch so lange leben lassen, als meinen alten Vater. Leben Sie wohl, Sein Freund ist auch der Meinige.“

Das ist der authentischste und unmittelbarste Bericht über Georg Büchners Tod, den wir kennen – die Geliebte Minna schreibt an den gemeinsamen Freund Eugen Boeckel am 5. März. 

Der Blumengruß der Wissenschaftsstadt Darmstadt zum Todestag auf Büchners Grab im Zürich



Das Leben des gebürtigen Goddelauers war in den Jahren von 1833 bis 1837, seinem zwanzigsten bis vierundzwanzigstem Lebensjahr, so unglaublich angefüllt mit Ereignissen und Erlebnissen, Erfahrungen und Leistungen, dass es leicht für zwei Jahrzehnte hätte reichen können.

Was ihn bis heute bedeutend und unvergessen macht, ist in diesen wenigen Jahren geschehen – er hat die bedeutendste Flugschrift deutscher Sprache seit Jahrhunderten verfasst, drei Jahrhundert-Dramen und eine bedeutende Novelle geschrieben, eine naturwissenschaftliche Promotion von höchster Qualität vorgelegt und, nicht zuletzt, hunderte von Briefen geschrieben.

Die bedauerlich wenigen davon, die uns erhalten oder wenigstens in Auszügen oder Abschriften erhalten sind, bestimmen unser Bild von dem Weltgenie, das mit Empathie und Liebe auf die Welt blickt, für die er uns allen „ … Makkaroni, Melonen und Feigen, … musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine komm[o]de Religion.“ wünscht. 

Wie der lieben konnte, leiden, fühlen, wünschen – es bricht heute noch jedes fühlende Herz, wenn er uns vom Weihnachtsmarkt in Straßburg schreibt oder sich dagegen verwehrt, die einfachen Leute zu verachten: „Die Lächerlichkeit des Herablassens werdet Ihr mir doch wohl nicht zutrauen. Ich hoffe noch immer, daß ich leidenden, gedrückten Gestalten mehr mitleidige Blicke zugeworfen, als kalten, vornehmen Herzen bittere Worte gesagt habe.“ 

Die BüchnerBühne hat in diesen Zeiten der Beschränktheit ein Video erarbeitet, das sich mit Motiven der Lenz-Novelle auf Büchners Spur macht. 

„Am 20. Jänner ging Lenz ins Gebirge … „ – so beginnt Büchners Erzählung über die einsame Wanderung des an der Welt verzweifelten Dichters.

Also sind auch wir im Januar losgelaufen – mit einer Videokamera – zunächst ohne weiteren Plan – und wollten uns – selbst zweifelnd an der Zeit und in der Hoffnung auf ein Stückchen Theaterzukunft  – auf seine Spur begeben: Mitten im Ried, in einer benachbarten Kirche, im Odenwald …

Entstanden ist die Idee einer kleinen Lenz-Serie mit einfachen Mitteln. Sehen Sie hier die erste Station: „Die alten Dichter“ …

mit BASTIAN HAHN als Lenz
JOHANNA BRONKALLA als Mutter Oberlin
AYLIN KEKEC als Mädchen

Regie: Christian Suhr
@ 2021 BüchnerFindetStatt

Von Peter Brunner

„Am besten wär so’n autoritärer Herrscher, der ganz gut ist und ganz lieb und freundlich“

 

 

„Denkt an die Verfassung des Großherzogthums. – Nach den Artikeln derselben ist der Großherzog unverletzlich, heilig und unverantwortlich. Seine Würde ist erblich in seiner Familie, er hat das Recht Krieg zu führen und ausschließliche Verfügung über das Militär. Er beruft die Landstände, vertagt sie oder lößt sie auf. Die Stände dürfen keinen Gesetzes-Vorschlag machen, sondern sie müssen um das Gesetz bitten, und dem Gutdünken des Fürsten bleibt es unbedingt überlassen, es zu geben oder zu verweigern. Er bleibt im Besitz einer fast unumschränkten Gewalt, nur darf er keine neuen Gesetze machen und keine neuen Steuern ausschreiben ohne Zustimmung der Stände. Aber theils kehrt er sich nicht an diese Zustimmung, theils genügen ihm die alten Gesetze, die das Werk der Fürstengewalt sind, und er bedarf darum keiner neuen Gesetze. Eine solche Verfassung ist ein elend jämmerlich Ding. … “ (Georg Büchner, Der Hessische Landbote)

 

Die erste hessische Verfassung von 1820, von der Büchner so wenig hielt, ist nicht zuletzt „seine“ Verfassung, die „unsrer“ Büchners. Der Butzbacher Lehrer Fritz Weidig wird aktenkundig, weil er sie seinen Schülern zum Auswendiglernen aufgibt; sein „Leuchter und Beleuchter für Hessen“ kann trotz des Verfassungsverbotes von Zensur nur illegal erscheinen, ebenso – „natürlich“ – der Hessische Landbote. Wilhelm Schulz hat ihr immerhin bei der Anklage wegen illegaler Veröffentlichung seines „Frag- und Antwortbüchlein …“ einen Freispruch zu verdanken. Die Landboten-Verschwörer werden – trotz oder wegen der Verfassung – Opfer von Verfolgung, Haft, Folter und Exil: Büchner stirbt in Zürich, Weidig im Darmstädter Arresthaus.

Die gleiche Verfassung übersteht nach kurzer Liberalisierung die 48er-Revolution (während der Wilhelm Büchner und August Becker im sogenannten Revolutionslandtag sitzen) und auch die Deutsche Reichsgründung von 1871. Georgs Geschwister bleiben ihr ihr Leben lang untertan – bis auf Alexander, der nach dem Verlust der Anwaltszulassung wegen „Hochverrats“ eben dieser Verfassung schließlich nach Frankreich auswandert. Erst mit dem Niedergang der Monarchie 1918 und dem Inkrafttreten der demokratischen Verfassung des Volksstaates Hessen endet ihre Geltung. Sie begleitet damit Hessens Weg in die Moderne. Uns interessiert an diesem Gesetzeswerk, das durchaus nicht demokratisch entstand, ob, wie und warum es dennoch Fortschritt bedeutete. 

„Jeder Hesse ist vor dem Gesetz gleich“

und „Die Presse und der Buchhandel sind in dem Großherzogthume frey“ –

die Paragraphen formulieren Grundrechte, auf die Berufung im Gerichtsverfahren möglich war. 

Am Anfang unserer Überlegungen zur Bedeutung dieser „oktroyierten“ Verfassung stand ein Zitat. Liselotte Eder, R. W. Fassbinders Mutter, sagt im Episodenfilm „Deutschland im Herbst“

„Am besten wär so’n autoritärer Herrscher,
der ganz gut ist und ganz lieb und freundlich“

Wir fragen uns: 

Was bedeutet es für ein Staatswesen, wenn seine Verfassung nicht von der Gewalt des Volkes her kommt? „Nichts als leeres Stroh, woraus die Fürsten die Körner für sich herausgeklopft haben. … Eine solche Verfassung ist ein elend jämmerlich Ding“ schreibt Büchner im Hessischen Landboten. War sie nicht auch eine Verbesserung gegenüber der vorherigen, gesetzlosen Aristokratenwillkür? 

„Erscheint gemäß der Hessischen Verfassung ohne Zensur“ schreibt Friedrich Weidig über seine (illegale) Flugschrift, die in Wirklichkeit von der Staatsgewalt unerbittlich verfolgt wird, indem sie die „Karlsbader Beschlüsse“ der reaktionären Fürsten über die eigene Verfassung stellt. Hatte nicht alleine die Erwähnung von Zensurfreiheit eine verpflichtende Bedeutung, auf die sich Beschuldigte berufen konnten? 

Wären die ungebildeten Tagelöhner und Bauern denn überhaupt imstande gewesen, republikanisch-demokratisch zu agieren und sich selbst zu verwalten? 

Musste nicht vor der Wahl erst die Ermächtigung zur Wahl, Bildung, politisches Bewusstsein, geschaffen werden? 

„Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.“ schreibt Büchner. Wohlstand für alle scheint allemal wichtiger als Büchners Gleichheitsträume. Was wäre von einem Volk von Illiteraten und Hungerleidern an Perspektive zu erwarten gewesen?

„Dem Fürsten sein dankbares Volk“ (Inschrift auf dem verwirklichten Denkmal, dem „Langen Ludwig“ in Darmstadt). Die Bilder zeigen Ausschnitte aus der Denkmal-Karikatur von Jaques Tilly

 

 

Zu diesen Fragen fanden wir aktuell überraschende, ja beängstigende Parallelen:

Was sind Wähler*innen bereit, für ein Huhn im Topf dranzugeben? Dass das Fressen vor der Moral kommt, weiß Bertolt Brecht, und Büchners Woyzeck sagt „Wer kein Geld hat. Da setz einmal einer seinsgleichen auf die Moral in die Welt[.] Man hat auch sein Fleisch und Blut.“

In Polen kauft sich die Regierung Stimmen mit Wahlgeschenken, in Ungarn ist die Pressefreiheit ernsthaft bedroht und die Kapriolen des gewesenen amerikanischen Präsidenten lassen an Büchners König Peter vom Königreich Popo denken. Weltweit lässt sich undemokratisches Regieren hemmungslos „demokratisch“ legitimieren. 

Die Volksrepublik China erscheint heute manchen in Westeuropa als Prototyp einer anderen Moderne. Was nach unserer Auffassung sorgsamer Abwägung und schwieriger Abstimmungsprozesse bedarf, wie große Bauvorhaben oder weitreichende politische Strategien, wird dort scheinbar mit einem Federstrich der autokratisch herrschenden Politbürokratie entschieden. Nicht zuletzt wegen der außergewöhnlichen wirtschaftlichen Dynamik, die scheinbar so ermöglicht wird, werden durchaus sympathisierende Stimmen dafür laut. Hat nicht die chinesische Parteiautokratie in den achtziger Jahren nach Mao Tse Tungs Tod jahrzehntelangen Bürgerkrieg und den Zerfall des riesigen Reiches in „warlordships“ verhindert? War das die gebrachten Opfer an Demokratie und Freiheit nicht wert? Wie einfach wäre doch bei uns die Stromtrassenplanung, der Autobahnbau oder die Veränderung der Reise- oder Ernährungsgewohnheiten unter solchermaßen vereinfachten „chinesischen“ Verhältnissen! Auch das entwicklungspolitische Engagement der VR China, insbesondere in Afrika, das sich nicht um demokratische Legitimation, geschweige denn Demokratiebildung, schert, wird durchaus als nachahmenswert oder vorbildlich beschrieben. 

Fassbinders Mutter bringt es auf den Punkt: ein „guter König“ wäre billiger und effektiver als unsere aktuellen Regierungsformen. 

Warum dennoch diskutieren statt durchregieren, warum dennoch Konsens statt Dominanz, warum dennoch Kompromiss statt Befehl?

In der Büchnerstadt werden wir uns dem stellen – nach, trotz, mit oder ohne Corona – , und wir wollen die gefundenen Antworten öffentlich machen. Wir wollen es nicht dabei belassen, auf dem Elfenbeinturm akademische Debatten zu führen, wir wollen Diskurs führen und weitergeben. Daher werden wir Forschende zur Materie als „Inputgebende“ und künstlerisch Gestaltende als „Output-Gebende“ einladen. Sie sollen sich mit uns auf diese Fragen akademisch und künstlerisch einlassen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, aktuelle Vermittlungsformen für ihren Befund finden und öffentlich präsentieren. 

 

Ganz gemäß Büchners Haltung: „ …der dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein Geschichtschreiber, steht aber über Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt.“ 

Von Peter Brunner

200 Jahre Hessische Verfassung

Am 22. Dezember 1820, vor exakt 200 Jahren, wurde in Darmstadt, der Hauptstadt des Großherzogtums Hessen, die erste Verfassung des Landes verkündet. Wikipedia schildert hier gut und ausführlich die historischen Umstände, die dazu führten. Craig Weiser arbeitet an einer Promotion zum Thema und dokumentiert seine Recherchen im Blog „Verfassung Hessen-Darmstadt“.

Nach dem Tod des ersten Großherzogs, der sich als einziger der Darmstädter Fürsten ein vornehmes „e“ im Namen leistete – LudEwig“ -, formierte sich eine Bewegung zur Errichtung eines Denkmals zur Feier des Verfassungserlasses. Auch für die schließlich realisierte Variante gibt es einen guten wikipedia-Eintrag. Hier soll nur angemerkt werden, dass der dort als Mitentwerfer des „Langen Ludwig“ genannte Balthasar Harres später der Architekt von Wilhelm Büchners Villa in Pfungstadt wurde. 

Zunächst war allerdings ein anderes Denkmal geplant; im Darmstädter Stadtarchiv hat sich eine Zeichnung davon erhalten:

Der nicht verwirklichte Entwurf für ein Verfassungsdenkmal in Darmstadt.
Original im Stadtarchiv Darmstadt

Dass der „Lange Ludwig“ heute kaum als Verfassungsdenkmal wahrgenommen wird, ist schon bei der Errichtung beabsichtigt gewesen. Der nächste Großherzog, Ludwig II, lässt seinen Vater wie Napoleon auf der Pariser Place Vendome präsentieren, die Verfassung fast unsichtbar in der Hand und ohne dass auch nur eine einzige Inschrift auf sie hinweist. 

Als hätte er es geahnt, lässt Büchner seinen Danton sagen:

„Zwischen Thür und Angel will ich euch prophezeien: die Statue der Freiheit ist noch nicht gegossen, der Ofen glüht, wir Alle können uns noch die Finger dabey verbrennen.“

200 Jahre später wollten darauf aufmerksam machen, warum der lange Ludwig kein Verfassungsdenkmal ist, und haben eine Lösung gesucht, das nicht verwirklichte Denkmal doch noch zu realisieren. Christian Steinmetz ist der Gestalter unseres neuen corporate design, und dass er der Ur-Ur-Enkel Ludwig Büchners ist, hat uns sehr eng miteinander verbunden. 

Jaques Tilly mit Modell im BüchnerHaus

Durch seine Vermittlung lernten wir den Düsseldorfer “Großplastik-Gestalter“ Jaques Tilly kennen. Tilly hat sich unserer Überlegungen mit großem Engagement angenommen und seine außergewöhnliche Erfahrung bei Planung und Realisierung eingesetzt. Er konnte uns davon überzeugen, dass eine schlichte Rekonstruktion des verworfenen Entwurfes nicht wirken würde. Mit ihm zusammen haben wir stattdessen eine „3-D-Karikatur“ entworfen, in der Plan und Kritik zugleich erscheinen. Mit „Friede den Palästen“ machen wir deutlich, dass die Aristokratie das Bestehende sichern konnte, der scheinbar joviale Fürst macht es sich auf dem Rücken des zum Schweigen gebrachten und verarmten Volkes gemütlich. 

Das gelungene Modell konnten wir aus den Mitteln finanzieren, die uns das Land Hessen als Projektmittel für unsere Kooperation zur Verfügung gestellt hat.

Die BüchnerBühne hat ein wunderbares Programm entwickelt, das zusammen mit dem Wagen unser Motto „Büchner findet statt“ ins Land gebracht hätte.  Bis vor wenigen Tagen hofften wir noch, als „Lebenszeichen“ in der Corona-Krise wenigstens den Motivwagen in Darmstadt präsentieren zu können – die Freunde von der Centralstation und die Darmstädter Stadtverwaltung waren uns da sehr liebenswürdig behilflich. Auch das ist schließlich gescheitert. Der Wagen steht jetzt im Hof des BüchnerHauses und wartet mit uns auf bessere Zeiten. 

Jaques Tillys Realisierung der „Rekonstruktion“

Für BüchnerHaus und BüchnerBühne sollten die Umstände dieser Verfassung der Schwerpunkt der Aktivitäten 2020 sein; Stück für Stück sind unsere hochfliegenden Pläne in diesem Pandemie-Jahr auf dem Bauch gelandet. 

In Kürze mehr darüber, wie das Thema „oktroyierte Verfassung“ BüchnerBühne und BüchnerHaus 2021 beschäftigen werden.

Das Stadtarchiv Darmstadt hat einen zweiteiligen Beitrag zur Geschichte der Ludwigssäule veröffentlicht, und von Büchnerhaus und Büchnerbühne ist inzwischen ein erster Videobeitrag zum Thema online.

Von Peter Brunner

„Büchner findet statt“ – auch während der Schließung des Museums

 

 

 

Das Museum BüchnerHaus muss leider geschlossen bleiben. Es hat sich immerhin eine Möglichkeit gefunden, trotzdem den zahlreichen, oft spontan vorbeikommenden Besucher*innen der Büchnerstadt, zum Beispiel als Ziel eines Spaziergangs, ein Angebot zu machen. Im Hof des Büchnerhauses, wettergeschützt unter der „Büchnerscheune“, werden ab sofort und bis auf weiteres Bild- und Texttafeln präsentiert, die unter ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Leben und Werk von ausgewählter Dichter*innen blickt. Georg Büchner ist Teil von beiden Ausstellungen.

 

Mehr als Medizin

 

Für das „Centrum für Blutgerinnungsstörungen und Transfusionsmedizin CBT“ entstand die Präsentation der Biographie von neun dichtenden Ärzt*innen oder heilenden Dichter*innen, von Hildegard von Bingen zu Maria Montessori. Die Ausstellung wurde vom medizinischer Leiter und Eigentümer der CBT Gruppe PD Dr. med. Johannes Kruppenbacher gestiftet.

Für Georg Büchner hat das Büchnerhaus als Ergänzung den Familienstammbaum seiner Arztfamilie seit dem 16. Jahrhundert zusammengestellt; gleichzeitig werden dabei erstmals die zahlreichen Ärzte in unmittelbarer Verwandtschaft gezeigt, die während Georg Büchners Lebenszeit praktizierten.

 

 

Was bleibet aber… Literatur im Land

 

ist eine Wanderausstellung der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e.V. (ALG), eine Einladung zu einer literarischen Erkundung des Landes. Die Ausstellung stellt die Vielfalt der deutschen Literaturlandschaft dar und versammelt Schriftsteller*innen, die nicht nur ihre Region prägten, sondern weit über die Landesgrenzen hinaus strahlen. 

 

 

Beide Ausstellungen sind bis auf weiteres zu den Öffnungszeiten des Kulturbüros montags bis donnerstags von 8:30 Uhr bis 12 Uhr sowie sonntags von 12 bis 16 Uhr zugänglich.

 

Im neuen Jahr – „in besseren Zeiten“ – können wir hoffentlich eine Vernissage mit den Veranstaltern und ihren Gästen nachholen.

Von Peter Brunner
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