Soeben erschien

„Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde”

Neue Folge 72. Band 2014. Herausgegeben vom Hessisches Staatsarchiv Darmstadt
in Verbindung mit dem Historischen Verein für Hessen.
Redaktion: J. Friedrich Battenberg. Darmstadt 2014. ISSN 0066-636x.

 

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Gleich mehrere Beiträge widmen sich verschiedenen Aspekten der Geschwister Büchner.

Thomas Lange, der frühere Archivpädagoge am Staatsarchiv, stellt in zwei Aufsätzen seine Forschung zu „Strategien populärwissenschaftlichen Schreibens bei Ludwig und Alexander Büchner” unter dem Titel Vom „Od” zu „Kraft und Stoff” (SS 215 – 232) und – als Ergebnis persönlicher Erfahrungen – „Georg Büchner in China – ein Nachtrag zum Büchnerjahr” (SS 295 – 306) vor.

Unter „Buchbesprechungen und Hinweise” findet sich die Besprechung zur Georg Büchner Werkausgabe (2013 bei Lambert-Schneider) vom Vorsitzenden der Büchner-Gesellschaft, Matthias Gröbel (S. 411), noch einmal Thomas Lange, hier über Cordelia Scharpfs Luise Büchner-Biographie „Luise Büchner – eine evolutionäre Frauenrechtlerin des 19. Jahrhunderts” (ersch. 2013 bei Peter Lang, S. 433) und zum Katalog der Darmstädter Georg Büchner-Ausstellung (Mathildenhöhe/Hatje Cantz 2013) vom früheren Staatsarchivleiter Eckhart G. Franz (S. 435).

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AhG 72/2014. S. 1 des Inhaltsverzeichnisses

 

Mit dem Aufsatz über die Büchner-Brüder in Tübingen setzt Thomas Lange seine Berichte über Leben und Werk der Brüder, besonders Alexanders, mit einem Blick auf die Vorgeschichte von Ludwig Büchners Welterfolg „Kraft und Stoff” fort. Ludwig Büchner war nach dem Ende der „Tollen Jahre” 1848/49 zunächst in Darmstadt in der Praxis des Vaters, später auf einer Art Lehr- und Wanderreisen in Würzburg und Wien unterwegs gewesen. Alexander hatte als Jurist und „Doktor beider Rechte” im Großherzogtum Hessen seinen „Access”, das Recht auf Ausübung des juristischen Berufes, verloren, weil seine Teilnahme an konspirativen Treffen der deutschen Revolutionäre, 1851 in London, verraten worden war.  Er entschied sich für ein zweites Studium, die Literaturwissenschaft. 1852 ließ sich Ludwig Büchner in Tübingen nieder, wo er als Privatdozent Vorlesungen halten konnte. 1853/54 lebten die beiden Brüder dort zusammen. Lange konnte allerdings Alexanders Aufenthalt in den örtlichen Akten nicht nachweisen, Ludwigs eingetragene Wohnung bis Ende September 1854 war in der Klinik, danach bis zum erzwungenen Weggang 1855 in der Wilhelmstraße 960 (heute hat die Tübinger Wilhelmstraße kaum 160 Hausnummern, hier liegt möglicherweise ein Übertragungsfehler vor. Vllt. 96?)

Hier entstand nicht nur eine Vielzahl von Artikeln, die die beiden den neuen „zahlreichen Zeitschriften, die wegen der staatlichen Zensur unpolitisch sein mussten, aber dennoch populär sein und und zugleich durch Bildung und Belehrung den Fortschritt befördern wollten” (Lange)  anboten, sondern auch Ludwig Büchners erste Buchveröffentlichung nach seiner Dissertation, „Das Od” und ein bisher unveröffentlichter Text Alexander Büchners.

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Im Mai 2011 habe ich hier über „Das Od” geschrieben, und als die Luise Büchner-Gesellschaft 2013 die Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek besuchte, hat Thomas Lange auch auf Alexander Büchners unveröffentlichtes Manuskript des Theaterstücks „Odisch-Magnetisch. Original-Posse in drei Akten“ aufmerksam gemacht.  Die Duplizität der Beschäftigung der beiden mit dem gleichen Thema – Ludwigs aus naturwissenschaftlicher Sicht, Alexander literarisch-polemisch – schildert Dr. Lange als „Gedankenklärung” auf „ … dem Weg zu der gemeinsamen Überzeugung, dass die Naturwissenschaft die neue Leitwissenschaft geworden war“.

Lange weist überzeugend nach, dass Ludwigs Büchners Kraft und Stoff, das Alexander mit den Worten „Der Titel allein ist Gold wert und jeder Verleger nimmt und bezahlt Dir das Buch unbesehn” begrüßt haben will, seine „selbstbewusste und attackierende Richtung” (Lange, S. 227) dem Einfluss Alexanders verdankt.  „In dem pointierten, z.T. sogar bissig zugespitzten Stil von Kraft und Stoff meint man den mit ungeheurem Selbstbewusstsein und provozierend 1849 und 1851 vor Gericht aufgetretenen Juristen Alexander Büchner wieder zu erkennen“ (S. 228). Zweifelsfrei hat Alexander Büchner am Vorwort zur dritten Ausgabe von Kraft und Stoff mitgewirkt, wo sich beide „zum populärwissenschaftlichen Schreiben” bekennen. Nicht nur Ludwig Büchner war also ein „Popularisierer” (ich habe ihn gelegentlich mit Hoimar von Ditfurth, später vor jüngeren Zuhörern auch mit Rangar Yogeshwar, unseren modernen „Welterklärern”, verglichen), sondern auch sein Bruder Alexander, der 1854 von der Tübinger Universität mit der Ablehnung seines Wunsches nach Habilitation die Quittung erhielt: „Gelenkigkeit des Zeitungsschreibers” heißt es vernichtend über seine „Geschichte der englischen Poesie”.

Ludwig Büchners soziale Utopie, die Alexander 50 Jahre später altersmilde „sehr hypothetisches Endziel” genannt hat, steht ohne Zweifel  in der „familiären revolutionären Tradition”, ebenso wie Alexanders publizistische Tätigkeit, über die er 1856 schreibt: „Nicht minder dankenswerth erscheint es uns, neben dem Leib auch die Analogien und Unterschiede des Geistes, wie er sich in der Dichtung offenbart, dem Unterschiede der Völker und der Jahrhunderte nach, aufzudecken, und die reichlichen Resultate der literaturhistorischen Forschungen der letzten Jahrzehnte von diesem Gesichtspunkt aus zu einem gemeinschaftlichen Bilde zu concentrieren”.

Den Lesenden überlässt es Thomas Lange, dem das Spekulieren fern liegt, die Antwort auf die mit Georg Büchners Leben stets verknüpfte Frage, wohin der Darmstädter Feuerkopf sich als Züricher Universitätsprofessor mit Arbeit und Auffassungen entwickelt hätte. Ein politischer Popularisierer Georg Büchner (bei allem Wissen um die Problematik des Begriffes in diesem Zusammenhang) hätte im 19. Jahrhundert jedenfalls noch weit einflussreicher werden können als der naturwissenschaftliche Ludwig und der literaturwissenschaftliche Alexander.

 

Anfang der 80er Jahre war Thomas Lange Lektor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in der VR China und hat dort die erste Magisterarbeit eines Chinesen zu Georg Büchner betreut. Sein Bericht „Georg Büchner in China” über die Arbeit seines Studenten Huang Xiaolang, verknüpft mit der Schilderung der Lebens- und Arbeitsumstände eines (west)deutschen Lektors angesichts der präsenten Erinnerung an die Kulturrevolution, bietet einen interessanten Aspekt der internationalen Büchner-Rezeption, die er selbst mit der Bemerkung relativiert, dass ihm „wissenschaftliche Literatur in chinesischer Sprache nicht zugänglich ist”. Dennoch ist der Blick hinter die immer noch berghohe Mauer, die uns aus politischen, kulturellen und sprachlichen Gründen von China trennt, interessant und aufschlussreich. Büchners Werk erschien zwischen 1981 und 1986 in China in Auflagen von 13.000 („Dantons Tod”) und 2.200 („die übrigen Werke”). Es ist keine genaue Kenntnis vom chinesischen Buchmarkt erforderlich, um zu erkennen, wie klein diese Zahlen sind. Lange zählt andere deutsche Autoren und deren Erscheinen im Chinesischen zwar auf, nennt dort aber keine Auflagenzahlen mehr. Nach Gründung der Volksrepublik erschien zunächst als Übersetzung aus dem Deutschen, neben wenigen Klassikern wie Lessing, Schiller und Heine, ausschließlich DDR-Literatur; erst nach Maos Tod und dem Ende der Kulturrevolution kamen auch aktuelle westdeutsche Autoren dazu. Max Frisch (1975), Günter Grass (1979) und Adolf Muschg (1980) bereisten die Volksrepublik. Auf der Bühne hat China offenbar bis heute keinen „Danton” gesehen („ .. und das wird sich nach der Niederschlagung des Volksaufstandes auf dem Tienanmen in Beijing am 4. Juni 1989 wohl auch so schnell nicht ändern.” – Lange); während anlässlich der „Büchner-Jubiläen” 2012 „geradezu ein Woyzeck-Jahr“ in China wurde. „Woyzeck”, schließt Lange, „ist offensichtlich das Stück Georg Büchners, das am besten in die gegenwärtige literarische Stimmung in China passt. … Die Rezeption der Werke Georg Büchners in China in den letzten 30 Jahren erfolgte parallel zur rasanten Modernisierung des Landes; die thematischen Schwerpunkte verschoben sich von der politischen Revolution auf die soziale Anklage”.

 

Matthias Gröbel lobt in seiner kurzen Rezension die neue Büchner Werkausgabe, „weil mit ihr erstmals das in der gerade abgeschlossenen großen Marburger Büchner Ausgabe (MBA) deren Essenz erstmals preiswert erhältlich ist” (sic). „Die Herausgeber gehören auch zum harten Kern der Mitarbeiter an der MBA.” Besonders lobt Gröbel die 15-seitige Einleitung, die „den neuesten Stand der Büchner-Forschung” biete. Es handelt sich dabei laut dem Rezensenten um die Erkenntnis, „dass Büchner mit seinem Werk ganz in der Tradition der auf Lessing zurückgehenden Mitleidspoetik steht.“  Offenbar weniger zufrieden ist Gröbel allerdings mit den Illustrationen des opulenten Bandes (der Verlag annonciert „Edle Jubiläumsausgabe mit exklusiven Illustrationen”) durch den Berliner Benjamin Kniebe, der hier Einblick in sein künstlerisches Schaffen bietet. Gröbel ist doppelt zuzustimmen, wenn er schließt: „Dem sollte irgendwann eine preiswerte Gesamtausgabe folgen. Sie müsste nicht unbedingt illustriert sein”. Sie müsste sich, das soll ergänzt werden, auch nicht auf die Erkenntnis des harten Kerns der Mitarbeiter an der MBA beschränken.

 

Als „zweifellos gründlichste und umfassendste Monographie über Luise Büchner” lobt Thomas Lange Cordelia Scharpfs endlich überarbeitet ins Deutsche übersetzte Arbeit über Luise Büchner. Scharpfs Dissertation war  2008 bei Peter Lang auf englisch erschienen; 2013 konnte der hier besprochene Band erscheinen. Eine sorgfältige Chronologie zu Luise Büchners Leben fehlte bisher ebenso wie die gründliche und vieles erstmals verzeichnende über 60-seitige Bibliographie der Veröffentlichungen von und übere Luise Büchner. Einleuchtend erscheint Lange Scharpfs Vorgehen, anhand der Veränderungen in den vier zu Luise Büchners Lebzeiten erschienenen Auflagen von „Die Frauen und ihr Beruf“ zu zeigen, wie sich „ … Luise Büchner gegenüber der ersten Auflage von 1855 doch weit der neuen Möglichkeiten und Zielen der seither gewachsenen und organisierten Frauenbewegung geöffnet” habe. Luise, so schließt Lange seine Zusammenfassung, „wollte nicht, wie der von ihr bewunderte Bruder Georg, das Gesellschaftssystem aus den Angeln heben. … Sie folgte einem Mittelweg … ihr eigener Weg, den sie unter ihren Voraussetzungen und Bedingungen beschritt”.  Auch hier verzichtet Thomas Lange, wie schon im oben besprochenen Bericht über Ludwig und Alexander Büchner, auf die Spekulation, ob und wie lange auch ein gereifter Georg Büchner das System hätte aus den Angeln heben wollen.

 

Gleich mit dem ersten Attribut gibt Eckhart Franz deutlicher als dann in seiner Besprechung seine Distanz zum Ausstellungskatalog der Georg Büchner-Ausstellung zu verstehen: „pompös” nennt er das Werk, das in der Tat auf den ersten Blick Eindruck schindend auf den Betrachter wirkt. Kein Kommentar zu diesem Band kann darauf verzichten, die gewählte „künstlerische” Gestaltung, den Band durchweg mit auf dem Kopf stehenden Illustrationen auszustatten, kritisch zu betrachten. Franz beschränkt sich auf die Bemerkung „ … es wäre zweifelsohne `benutzerfreundlicher´ gewesen, wenn man das eindrucksvolle Opus (sic – pb) in Text- und Bildband aufgespalten hätte.” Bei der Aufzählung der Textbeiträge im Band, die  „ … zu erheblichen Teilen vom Leiter der Georg Büchner-Forschungsstelle in Marburg Prof. Burkhard Dedner und seinen Mitarbeitern Tim Fischer und Anne Maximiliane Jäger-Gogol bestritten werden (die sich vielfach hinter  ihren nicht aufgelösten Initialen verstecken)” verzichtet Franz auf jede Wertung, die beigegebenen Originalzitate nennt er abschließend „ … vielfältige Anregungen also“.
Dem Archiv für hessische Geschichte hätte es gut angestanden, hier einen Rezensenten zu beauftragen, der dem Gegenstand gegenüber weniger befangen ist. Immerhin gehörte Professor Franz zu den Autoren des ersten Kataloges einer großen Büchnerausstellung, dem immer noch sowohl für die wissenschaftliche Leistung wie für die buchkünstlerische Ausstattung Massstäbe setzenden von 1987. Dass dessen Vorgabe 2012 nicht nur nicht erreicht, sondern weit verfehlt wurde, weiß Eckhart Franz wohl nur zu genau.

 

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von Peter Brunner