Hier ist schon gelegentlich auf die Spekulationen um ein verschwundenes Büchner-Drama eingegangen worden; zuletzt bei der Besprechung der kleinen Erzählung Heidi von Platos: „Das verschwundene Manuskript“.

In Dieter Goltschniggs „Georg Büchner und die Moderne“ wird in Band 3 erstmals der Beginn eines Theaterstücks von Jan-Christoph Hauschild abgedruckt (SS 256 – 258, Erster Akt, Erste Szene). Goltschnigg erläutert:

 „In unserem rezeptionshistorischen Zusammenhang ist Hauschilds dramatische „Fiktion“ nur insofern von Interesse, als hier der ambitionierte Versuch unternommen wurde, das historische Faktengerüst um die schillernde, satirisch-frivole Renaissance-Figur, der unübersehbar (wie später auch bei Tankred Dorst, Nr. 65, 1990) die ungeteilte Sympathie des Autors gilt, mit Motiven, Wortspielen und Zitaten Büchners auszufüllen, die die Geistesverwandtschaft der beiden Dichter widerspiegeln sollen. Hauschilds Schauplätze sind durchweg bekannt: die Straßenszenen aus Danton, die märchenhafte, paradiesisch-utopische Schlaraffenlandschaft des italienischen Südens mit Feigen, Melonen und Oliven aus Leonce und Lena, die Szenerie des Jahrmarkts und des Wirtshauses aus dem Woyzeck. Auch die Dramenstruktur mit den vielen eingestreuten Liedern hat Hauschild von Büchner übernommen. Das historisch überlieferte‚ in Büchners Drama von Mercier auf Danton gemünzte Bild der „Dogge mit den Taubenflügeln“ (B 108) trifft genausogut auf Hauschilds Aretino zu, hinter dem jedoch auch der melancholische Leonce und schließlich Büchner selber als Verfasser des Hessischen Landboten zum Vorschein kommen. Der Ton der vormärzlichen Flugschrift schwingt deutlich mir, wenn Aretino gegenüber dem Marchese die Sache der bäuerlichen Untertanen vertritt. Auf den gräflichen Einwand, daß alle Bauern für ihre Arbeit „gut bezahlt“ würden, entgegnet Aretino rebellisch: „Oh ja, sie werden bezahlt, mit der Haut und den Schwielen ihrer Hände. Ihr zapft ihnen das Blut ab und zahlt sie mit ihrem eigenen Schweiß. Das ist der Lohn, den sie erhalten. Jeder Ziegel Eures Palastes ist gebrannt aus dem geronnenen Blut und dem Schweiß Eurer Untertanen. Hauschild kam es darauf an, nicht nur den schlüpfrigen Erotiker der Hurengespräche, sondern auch den Sozialkritiker zu Wort kommen zu lassen. Insgesamt ist Hauschilds dramatische „Fiktion“, die überall die Handschrift des Büchner-Epigonen verrät, ein originelles Beispiel für die produktiven Phantasien, die durch das verschollene Aretino-Drama freigesetzt wurden. Das Ergebnis ist die fiktionale Selbsterfüllung eines mit vielen Büchner-Verehrern geteilten Jugendtraums, gleichsam ein phantasiertes Traumsubstrat, das zwar zwei szenische Lesungen erlebt hat, dessen Bühnendebüt jedoch dem dramatisch dilettierenden Büchner-Forscher bisher noch versagt geblieben ist.”

(Goltschnigg, Dietmar: Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Bd. 3. 1980 – 2002. Berlin. Erich Schmidt Verlag. 2004. SS 155/156)

Die beiden szenischen Lesungen verzeichnet Goltschnigg für den 29. Oktober 1983 im Marburger Schauspiel und für den 28. Juni 1984 im Tübinger Zimmertheater.

Hauschilds besondere Annäherung an das Thema wird zu meiner großen Freude jetzt endlich inszeniert und an Georg Büchners diesjährigem, dem 201. Geburtstag (17. Oktober), auf Christian Suhrs Büchnerbühne aufgeführt.

 

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