Peter Brunners Buechnerblog

Monat: März 2013

Ernst Büchner – der Obermedizinalrat bei der Arbeit

Anlässlich des allfälligen Georg-Büchner-Gedenkens ergeben sich schöne Gelegenheiten, auch an seine verdienstvolle Familie zu erinnern. Kürzlich wurde in Darmstadt am Standort der früheren Gebäude des Kranken-, Armen-, Waisen- und Pfründnerhauses, Grafenstraße 9, am dort neu errichteten Fachärztezentrum durch die Investorengruppe Biskupek-Scheinert eine Gedenkplakette zur Erinnerung an Ernst Büchner angebracht. Der Vater der berühmten Geschwister lebte hier seit 1816 bis mit seiner Frau Caroline und den Kindern Georg, Mathilde und Wilhelm.

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Das Bild zeigt die Damen Rettig und Kaumeier, Ur-Ur-Ur-Enkelinnen (die Tochter natürlich noch eine Generation und ein Ur- weiter) von Ernst Büchner, Nachfahren seines Sohnes Wilhelm Büchner, und die Herren Fritz und Peter Soeder, Ur-Ur-Enkel Ernst Büchners und Nachfahren seines Sohnes Ludwig Büchner.

 

Fast gleichzeitig erscheint soeben das Inselbändchen meiner Freunde Boehncke und Sarkowicz „Versuchter Selbstmord mit Stecknadeln“. (Insel Bücherei 1372, Gebunden, 135 Seiten, ISBN: 978-3-458-19372-2, 14,95 €) . Die beiden haben die in medizinischen Fachzeitschriften veröffentlichten Texte Ernst Büchners zusammengestellt, herausgegeben und in einem klugen Nachwort kommentiert.

TitelEBuechner_BoeSarko

 

Die Texte wären auch ohne die Verbindung zu Georg Büchner bemerkenswerte Zeugnisse der Entstehung einer kühl-naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, wie sie Anfang des 19. Jahrhunderts unter anderem von Medizinern entwickelt wurde. Ernst Büchners erster Bericht, der dem Büchlein den Titel gab, lässt sich als eiskaltes  Zeugnis von Menschen- und Tierversuchen ohne jede Emotion des Berichtenden lesen:
Eine junge Frau verschluckt aus Liebeskummer Näh- und Stecknadeln und bittet dann Dr. Büchner, sie aufzuschneiden und davon zu befreien. Stattdessen behandelt der sie mit Brech- und Abführmitteln und notiert ihre Mitteilungen, wann sie wie viele der Nadeln auf natürlichem Weg wieder ausgeschieden hat. Um die organischen Vorgänge hierbei möglichst präzise zu analysieren, schafft Büchner später einen Hund an, der über Tage mit verschiedenen Nadeln gefüttert wird; nachdem eine erste Portion tatsächlich ausgeschieden wird, ohne dass der Hund wahrnehmbar litt, wird er dann ein zweites Mal mit Nadeln gefüttert, erschlagen und seziert, „… und die Eröffnung der Bauchhöhle geschah so schnell, … daß man die peristaltischen Bewegungen des ganzen Darmkanals noch mehrer Minuten lang recht stark vor sich gehen sah“. Unsere Autoren bemerken im Nachwort: „Die lapidar mitgeteilte Tötung des Versuchs-Hundes, die Georg als zehnjähriger sehr wahrscheinlich miterlebt hatte, wird als Erinnerungsposten einer kindlichen Empörung lebendig geblieben sein“. Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass sich die Geschichte im Jahre 1823 ereignete, zu einer Zeit, zu der unsere heutige Sentimentalität gegenüber allem Lebenden (solange es nicht zerteilt in der Kühltheke liegt) noch nicht an der Tagesordnung war. Georg Büchner hat sicher Hausschlachtungen erlebt, zum Beispiel bei den Großeltern in Reinheim oder beim Onkel in Goddelau, und nicht erst seit Hermann Nitsch wissen wir, dass Schlachtfeste vergnügliche Angelegenheit sein können. Ob ihn das Töten von Tieren also eher abgestoßen oder fasziniert oder überhaupt nicht berührt hat, möchte ich lieber offen lassen: wie so oft, bietet sich auch hier zu leicht die Gelegenheit, unsere Interpretationen als Folie über Georg Büchners Leben zu legen.

Ernst Bücher jedenfalls hat die Patientin, die ihm später erneut von verschluckten Nadeln erzählt, dann noch einmal mehrer Tage lang eingesperrt und unter Kontrolle Nadeln aufnehmen und ausscheiden lassen. Im Laufe dieses Experimentes scheint sie 95 Näh-, 32 Steck- und 1 Stopfnadel(n) ausgeschieden zu haben. Bedauernd schließt er seinen Bericht mit der Mitteilung, dass es „die Patientin schließlich für besser befunden hat, sich einem anderen Arzte anzuvertrauen …“.

War Ernst Büchner ein ignorantes Monster, das sich seinem Gegenstand ohne jede Emotion näherte? Das ebenfalls abgedruckte „Gutachten über den Gemütszustand eines Soldaten im Augenblick seines Vergehens im Dienste, durch tätliches Vergreifen am Vorgesetzten„, mit dem er dessen Freispruch erwirkte, lässt sich anders lesen. Er kommt zu dem Ergebnis, „ … dieser Zustand, welcher von den Schriftstellern vorübergehender Wahnsinn genannt wird, ist unseres Erachtens … nach wissenschaftlichen Grundlehren … möglich und erklärbar…“, und später, dass es  „nach wissenschaftlichen Grundlehren … in den Grenzen der Möglichkeit liege, daß derselbe … in einem Anfall von vorübergehendem Wahnsinn, in sein Vergehen geraten sein könne…“.

Das Grundthema seiner Söhne Georg und Ludwig allerdings,

Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt ?

scheint ihn nicht zu interessieren – er beschränkt sich auf nüchternsten Augenschein. Vermutlich war der Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis ohne Empiriker wie Ernst Büchner nicht möglich; die Abkehr von vorwissenschaftlichen Erklärungen bedurfte wohl des scharfen Schnittes. Immerhin musste Büchner sich ja im Fall der „verbrannten Gräfin“, über den hier bereits berichtet wurde, noch 1850 mit der Behauptung herumschlagen, dass sich TrinkerInnen gelegentlich selbst entzünden und so ums Leben kommen könnten. Aus heutiger Sicht steht außer Frage, dass Ernst Büchner Empathie für seine PatientInnen bestenfalls anders als Ärzte heute, vielleicht auch gar nicht, empfand. Dass er aber, wie es Boehncke und Sarkowicz für wahrscheinlich halten („wahrlich verwandt“) und es Hubert Spiegel in seiner Rezension für die FAZ dann schon für sicher nimmt, “ .. nicht ohne Einfluss auf eine der zentralen Szenen im „Woyzeck“ geblieben sein dürfte: Gemeint ist das berühmte Erbsen-Experiment, das der Regimentsarzt an Woyzeck durchführt“, ist dann doch eine sehr starke Behauptung. Georg Büchner war umgeben von „Ärzten“ und „Wissenschaftlern“, die skrupellos experimentierten. Corinna Nauheimer hat 2008 in ihrer Magisterarbeit  (bei Heiner Bohencke) „Georg Büchner als Rebell – Revolutionäre Ideen während der Studienzeit in Gießen 1833/34″ wieder einmal erläutert, mit welchen Schraten von Universitätslehrern er sich dort herumschlagen musste. Johann Bernhard Wilbrand wird ja schon lange als Vorbild des Doktor im Woyzeck beschrieben. Vorbilder für unmenschliche Wissenschaftler gab es sicher reichlich.

Boehncke und Sarkowicz fragen nach der „Schreibsozialisation“ Georg Büchners und stimmen Jan-Christoph Hauschilds Urteil zu, dass „die phrasenlose Präzision in der Sprache“ väterliches Erbteil sei und schließen zu Recht: „Ernst Büchner hat über Fälle berichtet, Georg beschrieb auf der Basis von Fallgeschichten das seelische und körperliche Leiden anhand von literarischen Figuren. Georg Büchner hat gerichtsmedizinische Gutachten im Woyzeck, den Bericht des Pfarrers Oberlin im Novellenfragment Lenz aus ihren moralisch-juristischen Kontexten gerissen, um sie in die Fallgeschichten zu verwandeln, an denen ihm gelegen war – in literarische Fälle…. Das ist in der Tat das schönste Ergebnis dieser lehrreichen Lektüre: hier liegen wichtige Dokumente der Medizingeschichte vor, die uns gleichzeitig wertvolle Hinweise auf die Schreibwerkstatt Georg Büchners bieten.

Der abschließende Hinweis auf weitere Materialien im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, nämlich gedruckte und ungedruckte Hinterlassenschaften Ernst Büchners in Gutachten des Darmstädter Medizinalkollegs, darf als Aufforderung zu weiterer Recherche verstanden werden.

 

Luise Büchner zum Weltfrauentag

 

Zum Weltfrauentag eines meiner Lieblingszitate von Luise Büchner (aus ihrer ersten Veröffentlichung „Die Frauen und ihr Beruf, 1855):

 „ … Was können uns jene jungen Wesen nutzen, die aus der Schule heraus nicht eilig genug ins Leben treten können, ohne Ahnung eines höheren Berufes, eines ernsteren Strebens? Aus ihren Reihen wird nur selten die tüchtige Mutter, das ächte Weib hervorgehen. Trunken vom Glanze der Ball- und Gesellschaftssäle, schweben sie, wie im Traume, durch ihre Jugend; aber wohl selten birgt sich unter dem flatternden Gewand das starke Herz, die hochbeschwingte Seele, deren die Frau doch so sehr, so nothwendig bedarf. Wie lieblich rauschen einige Jahre dahin, leichtbeschuht und voller Glanz; aber die Scene muß sich ändern, das wirkliche Leben klopft an die Pforten. Wie Viele wird es dann zum Kampfe bereit finden? Wie viele sind dann seinen gerechten Ansprüchen gewachsen? Ob die Ehe oder das Loos der Unverheirateten diese heiteren Gestalten erwartet, nur diejenige Frau kann ihren höheren Lebenszweck erfüllen, welcher die Erziehung die Mittel dazu an die Hand gegeben. Aber diejenige Erziehung kann weder Ernst noch Tüchtigkeit verleihen, der es selber daran fehlt, und wer den Lebensweg der meisten weiblichen Naturen verfolgt, wird finden, daß ihnen mit richtiger Bildung Alles gegeben wäre, während ihnen ohne dieselbe Alles genommen ist. O, ihr rosigen Kinder, euren Frohsinn und eure Heiterkeit möchten wir um keinen Preis der Welt euch rauben, ihr sollt Rosen in´s Haar flechten und das weiße Gewand tragen, aber darunter die Rüstung der Pallas Athene.“

Die Luise-Büchner-Gesellschaft lädt für morgen ins Literaturhaus Darmstadt ein: 

Vortrag, Lesung und Gespräch

mit Agnes Schmidt, Sigrid Schütrumpf und Edda Feess

Die Frauen und ihre Geschichte

Veranstaltung zum Internationalen Frauentag

 

 

 

In Darmstadt gibt es weder eine Luise Büchner-Schule noch eine Charlotte Heidenreich von Siebold Geburtsklinik. Nur zwei kurze Straßen und wenige Institutionen  erinnern an diese bahnbrechenden Darmstädterinnen. Auch die Arbeit und Tätigkeit von vielen anderen Frauen, die sich früher für das Gemeinwohl einsetzten, sind in den Darmstädter Geschichtsbüchern kaum dokumentiert. Anlässlich des Internationalen Frauentages wollen wir an diesem Nachmittag an vergessene Frauen in Darmstadts Geschichte erinnern.  Unter dem Motto „Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt, dass sie eine Geschichte hat“ stellen die Frauenbeauftragte der Stadt Darmstadt Edda Feess mit den Auszubildenden Shanita Arnold und Sky Nicoll  ihr Geschichtsprojekt  vor.
Eintritt frei

Eine gemeinsame Veranstaltung mit dem Frauenbüro Darmstadt

Wann 09.03.2013 
von 16:00 bis 19:00

Wie bestellt: Lenz? Reichlich im Angebot!

Es wird in den Sternen bleiben, ob die Verantwortlichen wirklich die Jahreszeit zum Anlass genommen haben, oder ob doch die allfälligen Büchnerjubiläen ihren Beitrag dazu geleistet haben: im Rhein-Main-Gebiet konnte ich in den letzten Wochen vier höchst unterschiedliche Interpretationen von Büchners Lenz sehen, zuletzt gestern Abend in Willy Pramls Theater in Frankfurt.

Christian Wirmer reist mit seinem (jetzt im Vergleich) fast spröden Vortrag des Textes, der mir erstmals die Augen darüber öffnete, wie sehr er sich wirklich zum Hören eignet,

 Christian Suhr hat in Erfelden „seinen“ Lenz so auf die Bühne gebracht, dass er von den hier erwähnten am ehesten zu einem Schauspiel wurde (er hat mir kürzlich gesagt, dass er die heutigen Aufführungen gegenüber der Premiere, die ich sehen konnte, verknappt hat und selbst als reifer empfindet),

das Darmstädter Staatstheater führt Wolfgang Riehms Kammeroper Lenz von 1979 auf, und eben

das Frankfurter Theater Willy Praml präsentiert Bücher.Lenz & Schubert.Schöne Müllerin  fast wie die Brücke zwischen Wirmer und Suhr – mehr Schauspiel als Wirmer, weniger Bühne als Suhr. 

Arbeitsstätte 

Praml stellt neben den „Lenz“ (Michael Weber)  eine „Tänzer“ genannte Figur (Andreas Bach), der stumm, aber in sprechenden Gesten Lenzens Widerpart gibt und so die Gespaltenheit der Figur repräsentiert. Vassily Dück (Akkordeon) und Gregor Praml (Bass+ Gesang) übernehmen den Schubert-Part der Vorstellung. Gregor Pramls wunderbare Stimme, die sich jeder Melodiosität standhaft verweigert, macht das zu einem wirklichen Erlebnis. So einleuchtend Willy Pramls Begründung für die Parallelität der Lebensdaten von Büchner, Schubert und Müller (dem Verfasser der vertonten Gedichte)  ist, so sehr bewegt mich dabei die Frage, ob Schuberts „Kunstlieder“ nicht auf scharfe Ablehnung des volksliedliebenden Büchner gestoßen wären.

Weber, Bach im ebenfalls von Michael Weber gestaltetem Bühnenbild 

Auch Michael Weber beherrscht und präsentiert den Text: wo bei Wirmer die erzählende Distanz des Büchnertextes eingehalten wird und wo Suhr dies durch freies Spiel und zusätzlichen Text erweitert, steht Willy Pramls Aufführung zwischen Vortrag und Spiel.  

Verdienter Beifall am 2.3.: Dück, G. Praml, Weber, Bach  (v.l.n.r.)
(Freundlicherweise hat mir Willy Praml ausnahmsweise das Aufnehmen erlaubt, vielen Dank dafür!)

Ich werde nun als „Büchnerblogger“ den Teufel tun und mich hier tiefschürfend über Interpretationsansätze und Zugänglichkeiten der Stücke zu äußern; schon, weil ich viel zu gerne hätte, dass möglichst viele Interessenten ebenfalls alle vier Stücke sehen. Mich hat die Oper wirklich herausgefordert, aber das will ich gerne meinem musikalischen Kretinismus anlasten. 

Soviel aber schon:  alle haben mir etwas Neues gegeben, und ich bedaure keine Minute. Und: ich habe mich sehr gefreut, als mir Willy Praml gestern erzählte, dass er plant, eine Aufführung von Christian Wirmer zu sehen.

Ich wünsche mir jetzt eine Einladung an alle Beteiligten zu einem öffentlichen Gespräch!  Gerade nachdem wir erste Berichte über gründlich misslungene Auseinandersetzungen mit Büchners Werk zur Kenntnis nehmen (und erleiden) mussten, könnte hier eine ganz neue und fruchtbare Perspektive auch für den künstlerischen Austausch eröffnet werden.