Fast einhundert Jahre nach seinem tragischen Tod hat Ernst Büchner durch die sorgfältige Recherche eines englischen Chemikers eine sehr verdiente, aber unerwartete Würdigung erfahren. Andrea Sella, Lektor für anorganische Chemie am University College, London, erreichte mich durch hartnäckige Suche. Inzwischen verbindet uns eine freundschaftliche Korrespondenz, die mittlerweile schon wieder neue Erkenntnisse auf Grund des Artikels gebracht hat. Offenbar war Ernst Büchner 1890 vorübergehend bei Reckitt in Hull tätig. Dazu später mehr.
Im englischen Original erschien der Artikel in der November-Ausgabe von Chemistry World.  Die Veröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors Andrea Sella und von Chemistry World.

Grundausstattung: der Büchnertrichter

Im Labor herrscht keine Ruhe, im Gegenteil, man ist ständig von Geräuschen umgeben.
Hören wir für einen Moment zu: im Hintergrund rauscht der Dunstabzug, Pumpen pochen und gurgeln, ein Tesla-Transformator knistert; die Anzeige des Helium-Kryostats flackert, Wasser tropft aus einem Kondensator in den Ausguss, eine Zentrifuge jault, und dann lässt auch noch ein Kollege einen Kolben fallen – das ist der Soundtrack unserer Arbeit.
Einige Glasinstrumente haben einen unverwechselbaren Ton. Methanol-Destillen machen dumpfe Schläge beim Siedeverzug und Schlenk Gefäße zischen und strudeln wenn sie evakuiert und neu befüllt werden. Aber der fröhlichste Laut von allen ist das gurgelnde Lachen eines Büchnertrichters, wenn der letzte Rest der Mutterlauge durch die Filterplatte gesaugt wird. Das unverkennbare Geräusch kennt und liebt jeder Chemiker. Es ist der Klang vom Finale, dem letzten Akt der Synthese, wenn unser Produkt die Bühne betritt und sich wappnet für die Feuerprobe der Analytik.
Für lange Zeit war Filtration ein mühseliger Prozess, bis man in den 1880er Jahren begann, die Aufarbeitung zu beschleunigen, besonders im Umgang mit höheren Produktmengen bei Reaktionen im Großmaßstab. Ein schnelleres Entfernen des Lösungsmittels kann man durch eine Erhöhung des Druckgefälles im Filter erreichen. Zwei Wege boten sich an: Einerseits die Verwendung einer Filterpresse, wobei die Mutterlauge buchstäblich durch einen horizontalen oder vertikalen Kolben durch Überdruck herausgepresst wird, was sich für größere Umsetzungen gut eignete. Die Alternative war, Unterdruck einzusetzen, um die Flüssigkeit abzusaugen. In einer früheren Folge haben wir beschrieben, dass Otto Witt den „Witt“ erfunden hatte – eine perforierte Platte zum Einsatz innerhalb des Filters als Halterung für Filterpapier: und Robert Hirsch entwickelte kurz darauf eine „all-inclusive-Version“, die für die Filtration kleiner Mengen perfekt geeignet war (s. Chemistry World  March 2009).
Kaum sechs Monate nach Hirschs Bericht veröffentlichte der Direktor einer mittelgroßen Ultramarinfabrik aus Pfungstadt, nahe bei Darmstadt, Ernst Wilhelm Büchner, seinen Prototyp, eine Modifikation von Hirschs Erfindung, allerdings mit vertikalen Seiten, die die Bearbeitung viel größerer Volumina zuließen.
Ernst war der Sohn von Wilhelm Büchner, einem vermögenden Politiker aus einer hochgebildeten großbürgerlichen Familie. Wilhelms brillanter älterer Bruder Georg hatte bereits gegen sein privilegiertes und behütetes Elternhaus protestiert. Inspiriert vom Geist der Revolution begann er als Student im Gießen der 1820er aufrührerische Traktate zu verfassen. Sein berühmtestes Bühnenstück, Woyzeck, obwohl unvollendet, war das erste Drama, in dem die zentralen Figuren aus der Arbeiterklasse kommen. Sowohl das Stück wie die darauf basierende Oper von Alban Berg wirken bis heute so revolutionär wie vor 150 Jahren. Georg verursachte solchen Aufruhr, dass er fliehen musste. Er starb 23jährig an Typhus im Züricher Exil.
Der honorigere Wilhelm studierte Chemie, zuerst bei Gmelin, später bei Liebig. 1841 zurück in Pfungstadt begann er, im Heimlabor herumzuexperimentieren und entwickelte eine Methode zur Herstellung von Ultramarin, einem synthetischen Analog des wertvollen Minerals Lapislazuli. Das Produktionsgeschäft war erfolgreich, und Büchner nutzte die Erträge zum Kauf einer Fabrik und zum Ausbau seines Vermögens. Darüber hinaus stieg er in die nationale Politik ein und kämpfte für die liberalen Positionen seines älteren Bruders.
Der 1850 geborene Ernst litt wahrscheinlich unter dem Schatten seines überlebensgroßen Vaters. Erst schickte man ihn ins 30 km entfernte Weinheim auf die Schule, später studierte er bei Fittig in Tübingen. Dort veröffentlichte er 1874 eine Studie über Ultramarin und im folgenden Jahr seine Dissertation über die Zerlegung des Chlorbromanilins. 1876 heiratete er eine Kusine, aber sie verließ ihn bald darauf zusammen mit ihren beiden Kindern.
1882 übernahm Ernst das laufende Geschäft seines Vaters – ein Danaergeschenk. 1856 hatte Perkins Entdeckung des Mauveine eine ganz neue Form der Chemie auf der Grundlage des vielseitigeren Anilin angekündigt. Ernst arbeitete im Labor, er veröffentlichte einen Artikel über rotes und gelbes Ultramarin, und – er entwickelte seinen Filter. Aber trotz seiner eigenen Kenntnisse über Anilin-Chemie führte er das Unternehmen nicht in diese Richtung, und es begann der Abstieg. Das ging ihm nicht alleine so. Carl Leverkues, einer der größten Produzenten (dessen Name im Namen der Stadt Leverkuesen erhalten ist), stemmte sich gegen die Flut und schloß1890 14 Unternehmen zu den Vereinigten Ultramarin-Fabriken zusammen. Mit Zustimmung zu diesem Zusammenschluss stimmte Ernst der Schließung seiner Fabrik zu und verlor seine Arbeit.
1892 starb Wilhelm. In den nächsten Jahren erprobte Ernst zahlreiche neue Tätigkeiten – Kohlevergasung, Fotografieren – und bombardierte die Stadt Darmstadt mit listigen Plänen und cleveren Vorschlägen. Schließlich ignorierte man ihn. Das Geld wurde immer weniger, bis die Familie mittellos war. 1925 starb Ernsts zweite Frau Mary, und fünf Tage später nahm er selbst sich das Leben. Die beiden sind auf dem Grab seiner Tante Luise begraben, nicht bei seinen Eltern.
Aber sein Trichter hatte ein Eigenleben begonnen. Ein führender Laboratorienausstatter, Martini und Kaehler, verkauften ihn bis zum Auslauf des Patentes 1920. In Deutschland hieß er bald „Nutsche“, eine onomatopoetische Annäherung an sein saugendes Geräusch (so wie „Lutscher“ für die Süßigkeit). Mit Durchmessern bis zu mehreren Metern wurden Nutsche-Filter die Arbeitspferde der industriellen Filtration. Und zurück in unseren lärmenden Laboratorien lachen Büchners Filter – egal ob aus Plastik, Keramik oder Glas – jedes Mal, wenn wir eine neue Mischung isolieren.
Andrea Sella ist Lektor für anorganische Chemie am Universtity College, London.

Quellen:
E Büchner, Chem.-Zeitung, 1888, 12, 1277

Übersetzt mit freundlicher Hilfe von Nora und Jutta Backes, Steinheim am Albuch

Reproduced by permission of the Royal Society of Chemistry.